Kulturarbeit im Leerstand in der östlichen Obersteiermark

In einer mehrteiligen Reportage ergründet die IG Kultur Steiermark die zeitgenössische Kulturarbeit in den steirischen Regionen. Der vierte Teil unserer Reihe beschäftigt sich mit der östlichen Obersteiermark, also mit den Bezirken Leoben und Bruck-Mürzzuschlag. Wir haben dazu eine Umfrage unter den Kulturvereinen gemacht und Gespräche mit Kulturarbeiter*innen geführt.

Foto Copyright Neuberg College

Foto Copyright Neuberg College

Eine Gruppe übernächtigter Menschen müht sich den steilen Anstieg von der Eisenerzer Altstadt zum Schichtturm hinauf. Die letzte Nacht steckt ihnen noch sichtlich in den Knochen, während oben schon der Schlagergarten Gloria die Samstagsschicht am Rostfest einläutet.

Seit 2012 lockt das Rostfest jedes Jahr im August mehr als tausend Besucher*innen und unzählige Künstler*innen aus den urbanen Zentren in das ehemalige Alpen-Eldorado. Mit dem Niedergang der Montanindustrie verlor die Stadt etwa zwei Drittel ihrer Einwohner*innen. Für den Verein Rostfrei sind die entstandenen Leerstände in der Stadt hinter dem Präbichl eine wertvolle Ressource. Verlassene Arbeiter*innenwohnungen in der Siedlung Münichthal werden fürs Urban-Camping geöffnet und leerstehende Gebäude und Plätze mit einem umfangreichen Programm aus Kunst, Musik, Sport und Action belebt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Clubkultur im Kurort

Neben dem Rostfest ist vor allem das Sublime in Aflenz ein Garant für Live-Musik in der Region. Nach einem Blick ins Programm würde man den Club eher in Graz oder Wien als am Fuße der Aflenzer Bürgeralm verorten. Immerhin gaben sich 2022 Bands wie Nadasurf, Friska Viljor und die New Yorker Skalegenden The Toasters die Klinke in die Hand.

Mitte der 90er-Jahre entdeckten einige Jugendliche ein ehemaliges Kino als Ort für Partys. Nach einigen Umbauten entwickelte sich aus den leerstehenden Räumlichkeiten das Sublime – eine bemerkenswerte Location mit Live-Musik und einem Programmkino. Der Club entfalte einen großen Einfluss auf die jungen Menschen im Ort. „Die Jugendlichen kommen mit 16, 17 Jahren mit alternativer Musik und einer Community in Berührung und werden davon nachhaltig geprägt“, ist Geschäftsführer Klaus Plewa überzeugt.

Das führe auch dazu, dass weniger junge Leute aus Aflenz wegziehen und zum Studieren lieber nach Graz oder Wien pendeln. „Die Lebensqualität in einem Ort verändert sich, wenn es einen Club gibt, in dem Konzerte und Kinovorführungen passieren“, so Klaus Plewa weiter. Und wenn sie dennoch wegziehen, würden viele in anderen Städten in ähnlichen Kulturinitiativen aktiv sein.

Wohin ist die freie Kulturszene in Kapfenberg verschwunden?

Fragen sich indes Helmut Schlatzer und Sabine Aigner, die jahrelang als Theater/Baum/Schere theaterpädagogische Projekte in obersteirischen Schulen und Bibliotheken umgesetzt haben. Die Stadt Kapfenberg würde vor allem auf größere Events und Konzerte setzen. Kleinere, subkulturelle Vereine und Initiativen seien über die Jahre fast alle verschwunden. Für Jugendliche gibt es daher nur mehr wenige Lokale und Treffpunkte. „Alles wird von der Stadt fixfertig präsentiert und die Jugendlichen dürfen nicht selbst anpacken“, so Sabine Aigner, die sich politisch bei der Bürgerliste Vogl und der Partei Der Wandel engagiert. Die Jugendlichen wollen aber selbst gestalten und sich einbringen.

Ihre selbstständige Theaterarbeit mussten die beiden 2019 einstellen. Weder die Gemeinde Kapfenberg noch das Land Steiermark haben ihre Arbeit ausreichend gefördert. Zudem stellte das Land Steiermark auch noch die Finanzierung von Kunst und Kultur in der Nachmittagsbetreuung ein. Bis dahin standen jeder Schule 4000€ pro Schuljahr für diesen Zweck zur Verfügung. „Wir wurden gebucht, um mit den Kindern ein Theaterstück zu machen“, so Aigner. Das sei jedoch aufgrund fehlender Räume und sprachlicher Barrieren nicht realisierbar gewesen. Stattdessen sei das freie Spiel und die Vermittlung von Kinderbüchern im Vordergrund gestanden.

Art Mine in der Simon Mühle Trofaiach

Im nicht allzu weit entfernten Trofaiach schafft der Verein Art Mine Beteiligungsmöglichkeiten für Jugendliche in der Stadt. „Die Kontaktaufnahme erfolgt über die Schulen in der näheren Umgebung und über die Koordination für die Jugendarbeit in der Stadt Trofaiach“, erklärt Maeve Doyle, zuständig für die Jugendprojekte im Verein, ihre Arbeitsweise. Finanziert werden die verschiedenen Workshops und Projekte zu Kulturthemen für Jugendliche Großteils durch EU-Förderungen. „Die Kultur wird im Rahmen des Erasmus+ Programms zum Mittel der Völkerverständigung“, so Michael Domian, kaufmännischer Leiter des Vereins. Ganz konkret lotet man im aktuellen Erasmus+ Projekt Train2Sustain zusammen mit Partnerorganisationen aus anderen EU-Ländern die Möglichkeiten der Digitalisierung kultureller Events aus.

Dreh- und Angelpunkt für die Projekte ist die Simon Mühle. Die alte Mühle inmitten in der Trofaiacher Innenstadt wurde durch großes ehrenamtliches Engagement zu einem Kulturzentrum umgebaut. „Wir haben nichts Modernes hineingestellt, alles ist aus Holz und auch die alten Mühlstöcke sind noch da“, so Doyle. Seit November 2019 finden dort nicht nur Workshops, sondern auch Konzerte, Ausstellung, Lesungen und private Feiern statt. Bei dem Format „Z‘sammenhuckn“ wird die ältere Bevölkerung am Sonntagnachmittag zum gemütlichen Beisammensein bei volkstümlicher Musik eingeladen.

Mit seinem Programm trägt der Verein auch zur Wiederbelebung der Trofaiacher Innenstadt bei. Dem Thema Leerstand entlang der Hauptstraße nimmt man sich in einer Ausstellung an. Zusätzlich werden Künstler*innen nach Trofaiach eingeladen, Zukunftsutopien für die Stadt zu entwickeln. „Das Ergebnis wird auf Steher gedruckt und am Hauptplatz ausgestellt“, so Domian. Später werden sie von der Gemeinde dauerhaft über das Stadtgebiet verteilt montiert werden.

Lebensgefühl Semmering

Auch im Kunsthaus Muerz in Mürzzuschlag beschäftigt man sich mit der Entwicklung der Stadt und der Region. Besonders im Fokus des Mehrspartenhauses stehen der Semmering und die UNESCO-Welterbestätte Semmeringbahn. So war man wesentlich an der Gründung der Welterbe-Region Semmering-Schneealpe beteiligt. Gemeinsam mit der Welterbegruppe auf der niederösterreichischen Seite arbeitet man an der Auflösung der Bundesländergrenze. „Wenn jemand von außen auf den Semmering fährt, ist ihm egal, ob es die steirische oder die niederösterreichische Seite ist“, so Ursula Horvath, Geschäftsführerin des Kunsthaus Muerz. Aus dem Gebiet rund um die Semmeringbahn soll eine eigenständige, grenzüberschreitende Region werden.

Das Kunsthaus Muerz gibt nicht nur wichtige Impulse in der Region, sondern ist selbst das Resultat vorausschauender Kulturpolitik. Die ehemalige Franziskanerkirche aus dem 17. Jhdt. wurde vom damaligen Landeshauptmann Josef Krainer junior für die Landesausstellung 1991 „Sport, Sinn und Wahn“ revitalisiert und umgestaltet. Die moderne Architektur des Hauses war anfangs nicht unumstritten. Mittlerweile sei man aber aus der Stadt nicht mehr wegzudenken und sorge zusammen mit anderen Kulturinitiativen und Museen für ein weit über die Stadtgrenzen hinaus wahrnehmbares Lebensgefühl. „Das sind die Vibes, damit die Menschen hier leben wollen“, ist Ursula Horvath überzeugt.

Der Bahnhof als Lehrer

Dort wo Kaiser Franz Josef I. einst seine Jagd- und politischen Gäste in Empfang nahm, forscht heute das Neuberg College. Die Gemeinde hat das brachliegende Bahnhofsgebäude von den ÖBB gekauft und nach jahrelangem Leerstand auf Initiative des Vereins Neuberg College – Verein für Übersetzung der Gesellschaft – mit demselben einen Entwicklungs- und Zusammenarbeitsvertrag über 15 Jahre abgeschlossen. Seither wird hier kontinuierlich an der Übersetzung des Leerstandes in einen Raum für Bildung und Forschung gearbeitet. „Die Hardware wie Installationen und Eingriffe in die Bausubstanz machen Firmen, und wir die Software“, so Daniela Brasil über die Vorgangsweise. Die Veränderungen passieren sehr langsam. Das Kollektiv lässt sich bewusst Zeit und nimmt sich den Raum zum Denken. „Wir denken gemeinsam darüber nach, wie die einfachen Dinge funktionieren sollen, die im urbanen Raum selbstverständlich sind“, führt Brasil weiter aus. So hat man beispielsweise kollektiv an einer Kläranlage gearbeitet oder ein Waschbecken entwickelt, wo man sich beim Waschen gegenseitig betrachtet, anstatt sich selbst im Spiegel.

Zwei Mal im Jahr kommt das College mit internationalen Beteiligten aus verschiedenen Bereichen aus Kunst und Wissenschaft für eine Woche in Neuberg zusammen. Daneben gibt es immer wieder spontane Besuche und Arbeitsaufenthalte. Das College hat kein vorgegebenes Curriculum. Die Themen und Inhalte entstehen oft erst in der Auseinandersetzung mit dem Raum und der Ortschaft. Aus der Arbeit im Garten sei beispielsweise ein Botanikschwerpunkt entstanden oder aus dem Lesen von Texten von Ilse Aichinger ein Kurzfilm. „Es kommt aus den Gegebenheiten heraus“, so Johannes Milchram.

Durch die Offenheit des Bahnhofs entstehe ein Zusammensein und Austausch auf Augenhöhe. „Es gibt keine Machtpositionen, alle lernen voneinander“, sagt Daniela Brasil über die Aufenthalte in Neuberg. Dabei lösen sich die Grenzen zwischen den Disziplinen auf. Es werde an der Entspezialisierung des Denkens gearbeitet. „Oft bringen Nicht-Spezialisten die Professionisten am besten voran, indem sie einen neuen Blick auf die Dinge bieten und unerwartete Fragen stellen“, ist Felix Reinstadler überzeugt.

Der spürbaren Zögerlichkeit der Neuberger begegne man mit grundsätzlicher Offenheit und zahlreichen Einladungen an den Bahnhof. „Die Zirkulation der Beteiligten des Neuberg Colleges im Ort ist wichtig für die Kontaktaufnahme“, so Helmut Ege. Durch die Präsenz im Ort entstehen persönliche Verbindungen und Beziehungen. „Ich habe, seitdem ich hier tätig bin, mehr Freunde in Neuberg als im Dorf meiner Eltern, wo ich aufgewachsen bin“, so Felix Reinstadler. Auf einer qualitativen Ebene ist man also erfolgreich. Leider wird diese Qualität von den politischen Verantwortlichen im Gemeinderat Neubergs und in der Kulturförderung des Landes Steiermark trotz jahrelanger meist ehrenamtlicher Arbeit nicht hinreichend erkannt.

Ein bisschen Geld, ein bisschen Vertrauen…

Die Kulturförderungen des Landes Steiermark finden Beteiligte des Neuberg Colleges noch stark verbesserungswürdig. „Es gibt in diesem Prozess keinen Austausch und keine ausreichende Begründung, warum man das Geld bekommt oder nicht“, so Reinstadler. Man arbeite ins Dunkle hinein und müsse den Schluss ziehen, dass es kein Interesse an den Inhalten seitens der Kulturpolitik und Verwaltung gäbe.

Der Verein Art Mine würde sich in erster Linie mehr regionale Vernetzung und Austausch unter den Kulturinitiativen wünschen. In der Stadt Trofaiach wurde eigens eine Stelle für die terminliche Koordination von Veranstaltungen geschaffen, wodurch Überschneidungen vermieden werden. So etwas würde Michael Domian auch in der Region sinnvoll finden.

Bessere Fördermöglichkeiten und Unterstützung brauche es auch bei der Gründung von neuen Kulturinitiativen. Der Weg bis zur Mehrjährigen Förderung des Landes, die erstmals wirkliche Planungssicherheit garantiert, ist ein langer, steiniger. „Es war ganz schwierig, am Anfang die personellen Strukturen zu schaffen, dass man einen professionellen Kulturbetrieb durchführen konnte“, resümiert Michael Domian. Beim Betrieb der Simon Mühle sei man schnell an die eigenen Grenzen gestoßen. Ab einer gewissen Größe ist es mit ehrenamtlicher Arbeit nicht mehr machbar und es braucht Anstellungen. „Wenn die Politik die Rahmenbedingungen der Kulturarbeit in den Regionen erleichtern möchte, dann muss sie die finanziellen Mittel bereitstellen, damit Strukturen geschaffen werden können“, so Domian weiter. Dies „würde die Langlebigkeit der Kulturarbeit verlängern“, fügt Maeve Doyle hinzu. Viele Initiativen und Vereine hören mit der Zeit auf oder schrauben ihre Tätigkeit stark zurück, weil sie ausbrennen.

Dabei liege es auch an der Verwaltung, dass bereits aktive Initiativen nicht entmutigt werden und Neues nicht im Keim erstickt wird. Seitens der Kulturabteilung des Landes müsse ihnen ein gewisses Grundvertrauen entgegengebracht und ihnen nicht wie bisher mit Misstrauen begegnet werden. Denn derzeit wird bei vielen Förderwerber*innen der Eindruck erweckt, vor allem an der gesetzeskonformen Verwendung der Fördermittel interessiert zu sein. Das mag zwar ihre Aufgabe sein, führe aber einerseits zu einer überbordenden Bürokratie und andererseits zu einer zurückhaltenden Vergabe von Förderungen an neue bzw. der Kulturabteilung noch unbekannte Initiativen. In diesem Punkt sehen einige der Befragten die Politik in der Pflicht, der Verwaltung mehr Spielraum zu geben.

Zurück beim Schichtturm in Eisenerz tanzen indessen hunderte Menschen ausgelassen vor dem DJ-Pult. Die Stimmung erreicht hörbar ihren Höhepunkt. „I've had the time of my life“, kreischt die Menge aus vollem Hals. Postindustrielle Glückseligkeit …