Europas Nette Leit Kultur oder die Frage der Solidarität

Öffentliche Debatten haben eine bemerkenswerte Eigenschaft: Sie hinterlassen Reste. Diese Reste bilden zuweilen - wie auch immer sie im Einzelnen zu bewerten sein mögen - einen nicht unwesentlichen Teil der "Produktivität" solcher Debatten, indem sie etwa in Form von Gemeinplätzen in die Sekundärverwertung eingehen. Letzteres lässt sich nicht zuletzt regelmäßig an Österreichs Meisterfeuilletondenkern beobachten, deren Recycling solcher Gemeinplätze - vom Huntingtonschen "Kampf der Kulturen" bis zur Walserschen "Moralkeule" - von höheren Politikweisen schon mal für einen "Paradigmenwechsel" gehalten wird.

Öffentliche Debatten haben eine bemerkenswerte Eigenschaft: Sie hinterlassen Reste. Diese Reste bilden zuweilen - wie auch immer sie im Einzelnen zu bewerten sein mögen - einen nicht unwesentlichen Teil der "Produktivität" solcher Debatten, indem sie etwa in Form von Gemeinplätzen in die Sekundärverwertung eingehen. Letzteres lässt sich nicht zuletzt regelmäßig an Österreichs Meisterfeuilletondenkern beobachten, deren Recycling solcher Gemeinplätze - vom Huntingtonschen "Kampf der Kulturen" bis zur Walserschen "Moralkeule" - von höheren Politikweisen schon mal für einen "Paradigmenwechsel" gehalten wird.

Ein jüngeres Beispiel dafür, wie ein kaum geklärter und zudem höchst problematischer Begriff im gleichsam rituellen Verlaufe einer Feuilletondiskussion als Topos der öffentlichen Rede etabliert wurde, bildet die deutsche "Leitkultur"-Debatte. Zugegeben, in Deutschland wird mittlerweile - auch das eine Art Fortschritt der Diskussion - darüber gestritten, ob amtierende PolitikerInnen auch PatriotInnen sein müssen; und auf Österreich ist die Debatte nicht recht übergeschwappt - auch wenn es nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis auch die "Leitkultur" herhalten müssen wird, um dem Land die Hysterie auszutreiben. Der Wortspuk indes wird weder hier noch dort so schnell beendet sein.

Grund genug, auf eine andere Art von "Rest" einzugehen: jene undiskutierten Voraussetzungen nämlich, auf deren Boden erst jenes Terrain abgesteckt werden kann, innerhalb dessen sich die Positionen und später die Gemeinplätze einrichten lassen. Im Falle der Debatte um die "Leitkultur" wurden diese Voraussetzungen bemerkenswerterweise nicht nur relativ deutlich sichtbar, sondern zum Teil sogar ausgesprochen: zum einen, indem selbst von KritikerInnen wiederholt darauf hingewiesen wurde, dass es natürlich so etwas wie eine "Leitkultur" geben müsse, sofern damit gemeint sei, ImmigrantInnen hätten die deutsche Sprache zu erlernen oder das deutsche Grundgesetz zu achten. Zum anderen aber, und darum soll es im Weiteren gehen, wurde vorausgesetzt, dass sich die Auseinandersetzung jedenfalls um Fragen der "Kultur" drehe.

Nirgends wurde diese zweite Voraussetzung auf fast paradoxe Weise deutlicher vor Augen geführt als in einem Kommentar von Theo Sommer in der Zeit, der, gegen die leitkulturellen Vorstöße des CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz gewandt, einen "dreifachen Konsens" feststellen zu können meinte: Erstens gehe es "in Wahrheit nicht um Kultur im eigentlichen Sinne", sondern um "das Erbe der Aufklärung"; zweitens seien Kulturen ohnehin immer im Werden; und drittens: "Wenn schon Leitkultur, dann muss sie europäisch verstanden werden."

Viel Lärm um nichts also, wenigstens nicht um starre Vorstellungen von "Kultur"? Weit gefehlt, denn Sommer fühlte sich nicht zuletzt dadurch zu einer Distanzierung gedrängt, dass er selbst bereits 1998 über "Leitkultur" geschrieben hatte; und der Satz von der europäischen "Leitkultur" übersetzte den Begriff nur in jenen Kontext zurück, aus dem ihn auch Sommer bezogen hatte: Bassam Tibis Buch "Europa ohne Identität?", das, polemisch gegen "Multi-Kulti-Floskeln" (Tibi) gerichtet, die Notwendigkeit einer von Vernunftprimat, individuellen Menschenrechten, säkularer Demokratie, Pluralismus und Toleranz geprägten europäischen Leitkultur einmahnt.

Entsprechend lehnt auch Theo Sommer multikulturalistische Vorstellungen ab, um an ihrer Stelle lieber von einer "multiethnischen" Gesellschaft in Deutschland zu sprechen. Gerade diese aber, soll sie nicht "aus lauter Ghettos" bestehen, brauche eben so etwas wie eine "Leitkultur", der gegenüber ein Mindestmaß an Loyalität angesagt ist - für jene, die das Wort unanständig finden, hält Sommer die Surrogate "Mehrheitskultur" oder "Rahmenkultur" parat. Der tiefere Hintergrund der öffentlichen Debatte sei also, dass sich, vor allem in Sachen Zuwanderungspolitik, "eine realistischere Betrachtungsweise" durchgesetzt habe; und auch darin scheint sich Sommer mit Bassam Tibi zu treffen, der - quasi als deutschsprachiger Samuel P. Huntington - nach der "schematischen" und "künstlichen" Aufteilung der Welt in zwei ideologische Blöcke zu der "schlichten Wahrheit" zurückzufinden vorschlägt, "nach der sich die Menschheit in unterschiedliche Kulturen und Zivilisationen aufteilt".

Wie mainstreamtauglich diese - ihrerseits grob schematisierende - Vorstellung ist, beweist nicht allein die erstaunliche Karriere Tibis als Gast in Polit-Talks, sondern vor allem ihre Anwendbarkeit auf europäischer Ebene, die es schließlich sogar erlaubt, gegen die allzu nationalen Punzierungen Merz’ anzutreten.

Gewiss, die aktuelle Karriere der "Leitkultur" verdankte sich zunächst ihrer Eignung und Verwendung als neokonservativer Kampfbegriff. Der Verlauf der Diskussion in Deutschland verdeutlicht aber die eigentliche Dimension des Problems: Während etwa die konservative Rechte in Deutschland ihre Beschwörung nationaler Sentiments vorerst ohne die "Leitkultur" weiterbetreibt, bleibt diese in einer sozusagen entschärften Version als vermeintliche Ausgeburt der politischen Klarsicht, als Common Sense eines vor lauter Mitte rechts und links ständig verwechselnden politischen Zentrums zurück. (Der Hinweis auf einen vermeintlich verfassungspatriotischen Leitkulturbegriff reproduziert nur das Problem, nämlich die Umdeutung grundsatzpolitischer Fragen in kulturelle Zusammenhänge.) Dass sich schließlich das Attribut "deutsch", einmal die Blut-und-Boden-Konnotationen abgezogen, ebenso gut wie "europäisch" vor die "Leitkultur" setzen lässt, sollte zumindest zu denken geben und lässt sich wohl nur ausgehend von einigen allgemeineren Definitionsmomenten des Leitkulturalismus verstehen. Halten wir folgende drei Punkte fest:

1. Der Leitkulturalismus versucht sich gegenüber dem Multikulturalismus als Diskussionsfortschritt darzustellen, teilt indessen dessen basale Voraussetzung: nämlich ein Kulturalismus zu sein, d.h. (migrations-)politische, juridische und soziale Fragen in kulturelle Fragen umzudeuten.

2. Der Leitkulturalismus ist - so wie er im deutschen Kontext der Wiederbelebung des politisch kalkulierbaren Nationalstolzes dient - im europäischen Zusammenhang letztlich nichts anderes als eine explizit kulturalistische Ausprägung dessen, was der französische Publizist und Ex-Mitterand-Berater Régis Debray jüngst als "Europäismus" bezeichnete: jene ideologisierte Version der europäischen Integration, die, "anstatt sich als solche zu erkennen zu geben, als objektive Information daherkommt".

3. Wenn es auch richtig sein mag, dass - wie Debray (ähnlich wie Monika Mokre in der Jännerausgabe der Kulturrisse) feststellt - die Leidenschaftslosigkeit dieses Europäismus angesichts einer Reihe von historischen Erfahrungen Europas mit politischen Leidenschaften zu begrüßen ist, so sollte doch nicht übersehen werden, dass die Spielarten des Kultureuropäismus (ebenso wie jene des Neonationalismus) zumindest eine Leidenschaft voraussetzen und zugleich zu etablieren versuchen: die Leidenschaft einer kulturellen (bzw. nationalen) Loyalität, die bei den netten LeiteuropäerInnen offensichtlich außer Frage gestellt wird, von MigrantInnen aber zu fordern ist (dass so mancher "kultureller" Europäer sich - historisch wie aktuell - keineswegs zwingend als "guter Demokrat" erwiesen hat, sei hier, als gesicherter österreichischer Wissensbestand, nur am Rande erwähnt).

Vielleicht ist in gewisser Hinsicht der dritte der genannten Punkte der entscheidendste: nicht weil, kaum dass die neue Leidenschaftslosigkeit sympathisch wirken hätte können, durch die Hintertür erst recht wieder politisches Pathos eingeführt wird; sondern vielmehr deshalb, weil die angesprochene Idee der Loyalität die affektiv-emotionale Ebene der Politik - wenn auch unter der Einschränkung, dass es keine exklusive Loyalität gebe - an Vorstellungen kultureller oder nationaler Herkunft und Zugehörigkeit zurückbindet. So bemerkte etwa Jacques Le Goff in einem letzten Dezember in der Zeit veröffentlichten Interview: "Mit zunehmender Globalisierung verspüren die Menschen das Bedürfnis, innerhalb verschiedener konzentrischer Kreise zu leben. Zuerst ein lokaler Kreis, was in der Natur des Menschen liegt. Dann ein nationaler Kreis, der weiter bestehen muss. Und ein europäischer Kreis. Aber dabei dürfen wir nicht stehen bleiben. Schließlich gibt es da noch den universellen Kreis: Wir sind alle Menschen."

Die theoretisch markanteste Ausarbeitung dieser Idee verschiedener Loyalitätskreise hat der US-amerikanische Philosoph Richard Rorty in seinem Aufsatz "Gerechtigkeit als erweiterte Loyalität" formuliert - mit dem (an Michael Walzer orientierten) Zusatz, dass Loyalität in kleinen Gruppen wie etwa der Familie besonders "dicht" sei, während sie, je größer die Gruppe sei, desto "dünner" werde. Die Idee einer Universalität, wie sie Le Goff anspricht, wird bei Rorty "durch den Gedanken der Loyalität gegenüber einer sehr großen Gruppe ersetzt, nämlich der Menschheit". Kurz: durch den Gedanken einer sehr dünnen Loyalität.

Der Leitkulturalismus - ob "deutsch" oder "europäisch" - scheint mir nichts anderes zu sein als ein Ausdruck dieser sehr dünnen Loyalität, die sich an die Stelle jener Grund- und Menschenrechtsideen setzt, die für eine politische Idee Europas nach wie vor impulsgebend sein könnten. Wie gesagt: ein Ausdruck, nicht etwa die logische Folge der Richtigkeit von Rortys Thesen. Denn die reale und zugleich politische Existenz dieser dünnen Loyalität liegt vor allem in einem begründet: Sie ist mehrheitsfähig.

Umso mehr muss darauf hingewiesen werden, dass die alte, von Le Goff wie von Rorty beschworene Vorstellung der "Menschheit" sich angesichts gesellschaftlicher und politischer Herausforderungen als problematische Abstraktion darstellt. Zumindest was die Situation der MigrantInnen in Europa betrifft - und damit den politischen Bezugspunkt nicht nur der Leitkulturdebatte -, geht es nämlich gar nicht vorrangig (wie uns das Phantasma der sich extremisierenden Rechten Glauben machen will) um "alle Menschen" (die sich für ebendieses Phantasma als riesiger Strom von EinwanderInnen darstellen), sondern um jene, die konkret von politischen, rechtlichen und sozialen Ausschlüssen betroffen sind. Und genau von daher ist sowohl die Frage der Universalität neu zu bedenken als auch jene einer - transversalen - politischen Solidarität, die die Abstufungen zwischen "dichter" und "dünner" Loyalität zu unterlaufen imstande wäre.

Stefan Nowotny ist Philosoph und lebt in Wien.