Roma und Juden: vom Kennenlernen zum voneinander Lernen
<p>Sobald man sich fragt, wie viele Juden und Roma in Österreich oder in der ganzen Welt leben, gerät man schon in Schwierigkeiten. Schätzungsweise geht man von ca. 35.000 Roma und 15.000 Juden in der Alpenrepublik aus und in der ganzen Welt vielleicht von zehn Millionen Roma und 14 Millionen Juden. Die Zahlen sind also ähnlich groß. Was macht aber einen Menschen zu einer Romni oder einer Jüdin (bzw. zu einem Roma oder einem Juden)? Es hat in beiden Fällen mit Familie,
Sobald man sich fragt, wie viele Juden und Roma in Österreich oder in der ganzen Welt leben, gerät man schon in Schwierigkeiten. Schätzungsweise geht man von ca. 35.000 Roma und 15.000 Juden in der Alpenrepublik aus und in der ganzen Welt vielleicht von zehn Millionen Roma und 14 Millionen Juden. Die Zahlen sind also ähnlich groß. Was macht aber einen Menschen zu einer Romni oder einer Jüdin (bzw. zu einem Roma oder einem Juden)? Es hat in beiden Fällen mit Familie, Tradition, Kultur, Zugehörigkeit zu einem Volk, fremder Zuschreibung und natürlich auch Geschichte zu tun. Ein Vergleich zwischen den beiden Völkern sollte dabei helfen, Brücken zu schlagen. Roma und Juden könnten dabei voneinander lernen.
Da das Judentum eine Religion mit Konvertierungsmöglichkeiten ist, kann es nur um ein soziales Konstrukt und nicht um eine Ethnie gehen, wenn man vom „Jüdischen Volk“ spricht. So kam es in der Geschichte manchmal zu massiven Konvertierungen, etwa bei den Berbern im vorislamischen Maghreb oder bei den Chasaren im 9. Jahrhundert in Zentralasien. Das Gefühl, diesem Volk zugehörig zu sein, bedeutet impliziter Weise eine Anbindung an eine Geschichte, die heute immer noch stark vom Zweiten Weltkrieg geprägt ist. So ist es auch für Roma (damit sind Roma und Sinti gemeint), die ebenfalls von einem Völkermord betroffen waren. In der Geschichtsschreibung herrschte leider noch bis vor kurzem eine gewisse Hegemonialstellung jüdischer Geschichte gegenüber der von Roma, sei es auf nationalen oder internationalen Ebenen. Nehmen wir zum Beispiel der Film „Shoah“ von Claude Lanzmann (1985), von vielen als ein Meisterwerk betrachtet, auf jeden Fall aber als Meilenstein zu sehen. Der Film dauert über neun Stunden, die Ermordung von Roma kommt aber nie vor. In ganz Europa wurden sehr viele Denkmäler für die Ermordung von Juden errichtet, Entschädigungsfonds wurden kreiert, aber Roma aus dem Konzentrationslager in Lackenbach wurden erst 1988 mit den anderen KZ-Häftlingen hinsichtlich der Entschädigung gleichgestellt. In anderen EU-Länder war es nicht besser: Bis 1946 wurden Roma in Frankreich interniert. Im Konzentrationslager Auschwitz, das metonymisch für alle anderen steht, gibt es erst seit 2001 eine Dauerausstellung zum Thema „NS-Völkermord an Roma und Sinti“. Es kann jedoch nicht darum gehen, eine Opferkonkurrenz zu fordern, sondern eine Solidarität hervorzurufen und dabei Zahlen im Kopf zu haben: Was Österreich angeht, wurden von 200.000 Juden ca. 65.000 ermordet, also ein Drittel. Roma gab es nur um die 11.000, man schätzt aber, dass knapp 10.000 in den Tod getrieben wurden. Das sind 90%.
Es sind meistens Juden, die auf dieses Defizit an Anerkennung aufmerksam gemacht und die Lücke geschlossen haben. Hannah Lessing hat dabei als Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle gespielt, es gab auch Projekte wie „The Vienna Project“, initiiert von einer US-Amerikanerin, Karen Frostig, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Performances und Installationen zu organisieren, Erinnerungsorte für sieben Opfergruppen, darunter Juden und Roma, in der Bundeshauptstadt zu bestimmen. Aber auch im Jüdischen Museum wurde 2010 eine Podiumsdiskussion organisiert, und zwar als Roma in Frankreich von der Polizei verfolgt wurden. Darüber hinaus verpasst das Jüdische Filmfestival nie eine Gelegenheit, Filme, die sich ausschließlich mit der Geschichte der Roma auseinandersetzen, mit ins Programm zu nehmen, darunter etwa „Liberté“ von Tony Gatlif.
Neben diesen Aspekten, die zum kulturellen Bereich oder zur Gedenkkultur gehören, gibt es auch einen politischen Bereich. Roma und Juden tauchen immer wieder als Feindbilder in rechtsextremem Gedankengut auf. In Österreich wechseln FPÖ-Funktionäre wie letztlich Susanne Winter (...) zwischen Antisemitismus und Antiziganismus. Wenn jedes Jahr die Hofburg für den Akademikerball missbraucht wird, damit Rechstextremisten aus ganz Europa ungeniert und von der Polizei geschützt tanzen können, findet man Roma und Juden, die dagegen protestieren. Die Protestkultur ist vielleicht bei Juden stärker ausgeprägt, weil sie in der jüdischen Kultur eine längere Tradition hat, vielleicht weil es auch eine Ausdrucksform der jüdischen Identität ist, von Karl Marx bis Noam Chomsky über Daniel Cohn-Bendit (in 1968) oder Sigmund Freud, der damals schrieb: „Als Jude war ich dafür vorbereitet, in Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der kompakten Majorität zu verzichten.“
Es gibt aber auch Werte, die für Roma unabdingbar sind und von denen manche Juden lernen könnten. Die Roma bilden das einzige Volk, das keine Heimat hat, das keine territoriale Forderung stellt. In diesem Sinne sagte mehrmals der Schriftsteller Günter Grass: „Unter uns allen, sind sie die Europäischsten.“ Sie stehen vorbildlich für den Kosmopolitismus, ein Begriff, der auch für Juden von großer Bedeutung ist. Für manche Juden, vielleicht die Hälfte von ihnen, ist Israel eine Heimat, ein Anbindungspunkt. Man könnte sich vorstellen, dass die Forderung, Westjordanland zu annektieren, an Bedeutung verlieren würde, wenn dieser Kosmopolitismus wirklich ausgelebt würde. Im Gegenzug könnte sich ein Blick in die jüdische Geschichte als lehrreich für Roma erweisen. Die Besonderheit des jüdischen Völkermords wurde durch den Film „Shoah“ verbreitet und mit einem ähnlichen Film oder einem Buch könnte das Romanes-Wort „Porajmos“ (auf Deutsch „das Verschlingen“) eine größere Resonanz finden. Wenn man sich mit Roma und Romnija unterhält, werden häufig die Traditionen als wichtige Identitätsmerkmale genannt. Die Infragestellung von diesen Traditionen kann aber eben eine Grundbedingung des Fortschritts sein. Viele sind erstaunt, wenn sie erfahren, dass der Gründer des politischen Zionismus, Theodor Herzl, einen Christbaum in seiner Wiener Wohnung hatte und sich weigerte, seinen Sohn Hans beschneiden zu lassen. Es gibt heute sogar eine Bewegung unter Juden, die im Namen von Kinderrechten für die Abschaffung dieser Tradition kämpft („Jews against circumcision“). Wäre es nicht zu einfach, sich als Jude zu definieren, weil man seinen Sohn an den Genitalien verstümmelt hat?
Und wie steht es mit der Frage der Abstammung? Sind Kinder von Juden und Roma auch Juden oder Roma? Wie geht es, wenn nur ein Elternteil Jude oder Roma ist? Beim Treffen mit Romnja aus Spanien und Österreich im Rahmen des Projekts „TC Roma“ über die Rolle der Frau aus der Roma und Sinti-Community ist es zu heftigen Diskussionen gekommen. Manche Juden haben eine Lösung: „Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat“, behaupten sie. Diese Definition ist aber rekursiv und unendlich (weil man das „Jüdisch-Sein“ der Mutter prüfen soll, dann das von der Großmutter usw.). Es wird auch eine fremde Zuschreibung bei Menschen, die nicht Juden sein wollen, obwohl sie eine jüdische Mutter haben. Sie ist außerdem sexistisch, und die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns gelehrt, wie gefährlich es ist, Religion und Genetik zu mischen. Solche Definitionen, die die Identitäten eines Menschen betreffen, sollten vielleicht nur deklarativ sein: Jude ist, der sich als Jude erklärt, und genauso für Roma. In den letzten 30 Jahren wurden viele Kontakte zwischen Roma und Sinti geknüpft. Es kann nur zu einer gegenseitigen Bereicherung kommen, wenn Respekt und Vernunft im Zentrum bleiben.