Kognitarische Subjektivierung

Die soziale Fabrik hat sich in eine Fabrik des Unglücks verwandelt: Das Fließband vernetzter Produktion bedeutet die emotionale Energie der kognitiven Klasse unmittelbar aus.

Berardi

Franco Bifo Berardi

Kognitarische Subjektivierung

 

In den letzten Jahren war die Entwicklung neuer techno-sozialer Bedingungen zu beobachten, die aktuell den Rahmen für den Prozess der Subjektivierung bilden.[i] In diesem Zusammenhang möchte ich die Frage stellen, ob ein Prozess einer autonomen, kollektiven Selbstdefinition heute überhaupt noch möglich ist. Das Konzept des „general intellect“[ii], das von den italienischen Postoperaisten[iii] (Paolo Virno, Maurizio Lazzarato, Christian Marazzi) in den 1990er-Jahren entwickelt wurde, betont die Bedeutung der Interaktion zwischen Arbeit und Sprache: die soziale Dimension von Arbeit als eine unaufhörliche Rekombination zahlloser Fragmente, die unablässig Zeichen und Informationseinheiten produzieren, verfeinern, verteilen und dekodieren. Jedes dieser, von InformationsarbeiterInnen produzierten, semiotischen Segmente trifft dabei auf unzählige andere Segmente, passt sich diesen an und verbindet sich zum kombinatorischen Rahmen der Info-Waren, dem Semiokapital.

 

Semiokapital setzt neuro-psychische Energien frei, beschleunigt sie auf Maschinengeschwindigkeit, zwingt jeder kognitiven Aktivität den Rhythmus vernetzter Produktivität auf. In der Folge wird jener Bereich der emotionalen Sphäre, der mit kognitiver Aktivität in Verbindung steht, bis an seine Grenzen strapaziert. Die Cybertime wird vom Cyberspace überladen – da es sich beim Cyberspace um eine ungebundene Sphäre mit unbegrenzter Beschleunigung handelt, während Cybertime (die biologische Zeit von Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Imagination) nur bis zu einem bestimmten Punkt ausgedehnt werden kann oder andernfalls zerreißt. Tatsächlich zerreißt sie gerade, bricht unter der Belastung der Hyper-Produktivität zusammen. Panik und Depression breiten sich epidemisch in den Netzwerken des gesellschaftlichen Gehirns aus. Die aktuelle Krise der globalen Wirtschaft steht mit diesem Nervenzusammenbruch in direktem Zusammenhang. Wenn Marx von Überproduktion sprach, dann meinte er damit ein ausuferndes Warenangebot, dass vom gesellschaftlichen Markt nicht mehr absorbiert werden kann. Heute sieht sich das gesellschaftliche Gehirn mit einem überwältigenden Angebot an aufmerksamkeitsfordernden Waren konfrontiert. Die soziale Fabrik hat sich in eine Fabrik des Unglücks verwandelt: Das Fließband vernetzter Produktion beutet die emotionale Energie der kognitiven Klasse unmittelbar aus. 

An dieser Stelle möchte ich näher auf den Begriff der biologischen Grenzen eingehen, die oft durch die Betonung der grenzenlosen Möglichkeiten von Technologie überdeckt werden. Dabei sollte man in jedem Fall von Technologie in einem bestimmten Kontext sprechen. So ist etwa der kulturelle Kontext von Technologie derzeit auf ein wirtschaftliches Konkurrenzverhältnis ausgerichtet. Info-ProduzentInnen sind Neuro-ArbeiterInnen, deren Nervensysteme als aktive Eingangs-Terminals dienen, die ununterbrochen auf semiotische Aktivierung reagieren. Doch was ist der emotionale, psychische und existentielle Preis für den konstanten kognitiven Stress, der durch diesen permanenten Elektroschock ausgelöst wird? Die Beschleunigung der Netzwerktechnologie, der allgemeine Zustand von Prekarisierung und die Abhängigkeit von kognitiver Arbeit haben einen pathologischen Effekt auf den gesellschaftlichen Verstand, der die Aufmerksamkeitsspanne einschränkt und die Sphären von Emotion und Empfindsamkeit komprimiert. PsychiaterInnen haben in diesem Zusammenhang eine signifikante Zunahme von manischer Depression und einen Anstieg der Selbstmordrate bei ArbeiterInnen der jüngsten Generation festgestellt.

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Die Kolonialisierung der Zeit war ein grundlegender Faktor in der Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus: Die anthropologische Mutation, die der Kapitalismus im menschlichen Verstand und im Alltag auslöste, hat die Wahrnehmung von Zeit verändert. Wir bewegen uns nun auf unbekanntem Terrain – digitale Technologie ermöglicht die absolute Beschleunigung und verursacht dabei Kurzschlüsse der Aufmerksamkeitsspanne. Weil Informations-ArbeiterInnen einer wachsenden Masse an Stimuli ausgesetzt sind, die nicht mehr nach Kriterien wie Lust oder Wissen verarbeitet werden können, führt diese Beschleunigung zu einer Verkümmerung der Erfahrung. Mehr Information, weniger Bedeutung. Mehr Information, weniger Lust.

 

Empfindsamkeit ist ein langsamer Prozess: Wenn der Stimulus zu schnell pulsiert, ist eine tiefgehende, intensive Auseinandersetzung nicht mehr möglich. Die Überschneidung von elektronischem Cyberspace und biologischer Cybertime führt daher zu einer Desensibilisierung. In diesem Zusammenhang muss auch die Perspektive auf individuelle und gesellschaftliche Subjektivierung neu bewertet werden und es ergeben sich eine Reihe grundlegender Fragen: Ist es immer noch möglich, auf einen Prozess der kollektiven Subjektivierung auf der Basis von gesellschaftlicher Solidarität hinzuarbeiten? Ist es immer noch möglich, sich eine „Bewegung” als einen kollektiven Prozess vorzustellen, der imstande ist, die Realität auf intellektueller und politischer Ebene zu verändern? Ist es immer noch möglich, trotz der psycho-ökonomischen Dominanz des semiokapitalistischen Systems gesellschaftliche Autonomie zu erreichen?

Die Zersetzung des „general intellect“

 

Arbeitsverweigerung – oder besser: die Ablehnung von Entfremdung und der Ausbeutung von Lebenszeit – galt lange als die wichtigste Inspirationsquelle für Innovation, technische Weiterentwicklung und Wissensproduktion. Die organische Zusammensetzung des Kapitals (als ein Verhältnis zwischen toter und lebendiger Arbeit) hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert. Angesichts des Widerstands der ArbeiterInnen, ihrer Sabotageaktionen und ihrer Weigerung, sich unterzuordnen, sahen sich KapitalistInnen gezwungen, Ingenieure damit zu beschäftigen, die menschliche Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen. Doch auch die Intellektualisierung menschlicher Aktivitäten ist eine direkte Folge des Ungehorsams der ArbeiterInnen und ihres Widerstands gegen Ausbeutung: Wenn die Kosten für Arbeit steigen (wie das in den 1960er- und 1970er-Jahren der Fall war), dann ersetzen KapitalistInnen die ArbeiterInnen durch Maschinen, denn diese sind langfristig günstiger. So hat Informationstechnologie maßgeblich dazu beigetragen, dass intelligente Maschinen an die Stelle schuftender Menschen traten. Dadurch stieg der Stellenwert intellektueller Arbeit und kognitiver Aktivität, deren Sphären mit der Produktion von Mehrwert verknüpft wurden.

 

Die 1990er-Jahre waren eine Dekade der Allianzen: Kognitive Arbeit und Risikokapital verbanden sich im Dotcom. Die Erwartungen waren hoch (zumindest der Höhe der Investments nach zu schließen) und Kreativität wurde zum integralen Bestandteil gesellschaftlicher Arbeit. Doch im Jahr 2000 platzte die Dotcom-Blase und die Allianz zwischen kognitiver Arbeit und Risikokapital wurde vom Neoliberalismus zerstört. Dabei bediente sich der Neoliberalismus bestimmter Technologien, um die gesellschaftliche und politische Machtverteilung zwischen Arbeit und Kapital zu untergraben. Wie wir inzwischen sehen, führt neoliberale Politik zu einer allgemeinen Reduktion der Kosten für Arbeit und damit zur Verarmung der KognitarierInnen. Sowohl die Industriearbeit, welche in die globale Peripherie ausgelagert wurde, als auch die kognitive Arbeit ist entwertet und unterbezahlt. Die Prekarisierung hat die gesellschaftliche Solidarität fragmentiert und letztendlich zerstört. Wir sehen uns mit einer neuen Situation konfrontiert, die von der Prekarisierung kognitiver Arbeit geprägt ist und die von uns verlangt, dass wir uns der Frage nach Subjektivierung neu stellen.


Kurz nach dem finanziellen Kollaps im Frühjahr 2000, der als Dotcom-Crash in die Geschichte eingegangen ist und den Zerfall großer Corporations wie „Enron“ und „WorldCom“ einleitete, verfasste der Schweizer Philosoph und Wirtschaftswissenschafter Christian Marazzi (ein scharfsinniger Analytiker der sozialen Auswirkungen von Finanzkrisen) einen Artikel über die gefährlichen Folgen der Privatisierung des „general intellect“. Dabei sagte er einen Trend voraus, der sich nun, zehn Jahre später, in seinem vollen Umfang an der Politik der in Europa herrschenden neoliberalen Klasse zeigt. Folgen dieser Politik sind Kürzungen von Mitteln im Bereich der Forschung, die Manipulation und Militarisierung staatlicher Forschung sowie die Verarmung und Prekarisierung von kognitiver Arbeit.[iv] In einigen Ländern, etwa in Italien, werden die Mittel für Bildung und Forschung gekürzt, öffentliche Schulen privatisiert und erste Anzeichen von Ignoranz und Fanatismus sind als direkte Folge des Niedergangs des Bildungssektors bereits erkennbar. In anderen Ländern, etwa in Frankreich, werden öffentliche Mittel für Forschung immer stärker an einen unmittelbaren Nutzen für das Wirtschaftswachstum gebunden. Wenn Forschung einem kurzfristigen wirtschaftlichen Interesse untergeordnet wird, verliert sie ihren eigentlichen Wert und wird zu einem Werkzeug der Governance degradiert, das der bloßen Wiederholung von Aktivitäten innerhalb des existierenden gesellschaftlichen Rahmens dient. Indem kognitive ArbeiterInnen in die Prekarität gedrängt werden, verlieren sie zudem die Entscheidungshoheit über ihre Forschungsinhalte. In der Folge verringert sich nicht nur die Kreativität, welche die KognitarierInnen bereit sind, in ihre Arbeit zu investieren, sondern auch die Geschwindigkeit von Innovation und technologischem Fortschritt.

Langfristig zerstört diese Entwicklung die fortschrittlichen Aspekte des Kapitalismus. Wenn die Kosten für Arbeit so weit sinken, dass die physische Arbeitskraft der ArbeiterInnen günstiger ist als deren technologischer Ersatz, kommt die Innovation zum Erliegen. Weil im Neoliberalismus der unmittelbare Profit wichtiger ist als die langfristige Entwicklung der Produktivkraft, verschwinden progressive Impulse und der Kapitalismus wird zu einem de-zivilisierenden Faktor, der intellektuellen und technologischen Rückschritt bewirkt. 

 

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KognitarierInnen auf der Suche nach einem Körper

KognitarierInnen verkörpern den „general intellect“ in seiner ganzen Vielfalt. Indem sie Informationen verarbeiten, schaffen sie Waren und Dienstleistungen. Da die kognitive Funktion der Gesellschaft in den Prozess der Wertsteigerung des Kapitals eingeschrieben ist, fließt das unendlich fragmentierte Mosaik kognitiver Aktivität durch ein universales telematisches Netzwerk und redefiniert dabei die Form von Arbeit und Kapital. Das Kapital wird zu einem allgemeinen semiotischen Fluss, der durch die Venen der globalisierten Wirtschaft läuft, während Arbeit den Intellekt zahlloser miteinander vernetzten semiotischen Agenten konstant aktiviert.

 

In der Sphäre des Semiokapitals bilden die KognitarierInnen den gesellschaftlichen Körper der immateriellen ArbeiterInnen. Allerdings bleibt dieser Körper unvollständig, denn die KognitarierInnen bleiben voneinander isoliert. Die Entfremdung, welche sich in ihrer Lebenssphäre als psychisches Leiden ausbreitet, sprengt die Grenzen der Freud’schen Definition von Neurose: Während sie bei Freud auf der Unterdrückung von Begehren beruht, befeuert das Semiokapital die Nachfrage noch mit dem konsum-orientierten Überslogan: „Just do it!“ Das „Kognitariat“ ist von dieser Entwicklung direkt betroffen und reagiert mit Panik, Depression und Empathielosigkeit.

 

Dem Prekariat der kognitiven ArbeiterInnen wird das Konkurrenzdenken aufgezwungen. Man kann sich zwar auf Facebook mit einer anderen Person anfreunden, eine genuine Form von Freundschaft gestaltet sich vor dem Hintergrund weitgehender Isolation sowie einem intensiven ökonomischen Konkurrenzverhältnis jedoch schwierig. Um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, müssen wir ein kognitarisches Bewusstsein schaffen, das zur Entwicklung eines erotischen, sozialen Körpers des „general intellect“ führt. Hier beginnt der Weg zu einer autonomen und kollektiven Subjektivierung: ausgehend von „general intellect“ auf der Suche nach einem Körper.

 

Diese wichtige politische Aufgabe muss mit den konzeptuellen Werkzeugen der Psychotherapie und mit der Sprache der Poesie gelöst werden, statt Politsprech und die Mittel moderner Politikwissenschaften zu bemühen. Die politischen OrganisatorInnen des „Kognitariats“ müssen in der Lage sein, Panik und Depression zu überwinden und mit ihrer Sprache in aller Sensibilität einen Paradigmenwechsel einleiten, hin zu einer Re-Semiotisierung der Gesellschaft und der tiefgreifenden Veränderung von Selbstwahrnehmung und Erwartungshaltungen. Wir müssen uns unseres Körpers bewusst werden: eines sozialen, physischen und sozioökonomischen Körpers.

In den 1990er-Jahren kam Cyber-Optimismus in Mode und man sah sich damit in der Lage, den herrschenden Zeitgeist der Allianz zwischen RisikokapitalistInnen auf der einen Seite, sowie KünstlerInnen und TechnikerInnen auf der anderen zu interpretieren. Dieses Bündnis wurde jedoch in den Jahren der US-Präsidentschaft von George W. Bush zerstört, als Technologie in den Dienst des Krieges gestellt wurde und der Finanzkapitalismus einen Kollaps provozierte, der die Grundfeste moderner Zivilisation erschütterte. Heute klingt Cyper-Optimismus nach einem Fake, gleich einer Werbung für ein verdorbenes Produkt. In seinem kürzlich erschienenen Buch „Du bist kein Apparat” schreibt der amerikanische Informatiker und Künstler Jaron Laníer, der einst selbst Werkzeuge für die „virtual reality“ konstruiert hat:

 

„Die Jünger dieses kollektiven Bewusstseins scheinen zu glauben, dass die Anzahl der Abstraktionsebenen keinerlei Auswirkungen auf die Effizienz des Finanzsystems hätte. Dieser neuen Ideologie zufolge, einer Mischung aus Cyper-Blase und Neo-Milton-Friedman-Wirtschaftspolitik, wird der Markt nicht nur sein Bestes geben, sondern er wird auch umso besser funktionieren, je weniger Menschen ihn verstehen. Ich stimme dem nicht zu. Im Fall der Finanzkrise von 2008, die durch den Zusammenbruch des US-amerikanischen Immobilienmarkt ausgelöst wurde, haben zu viele Menschen zu sehr an die Blase geglaubt.“[v]

Governance und kognitive Subjektivierung

Wir befinden uns derzeit in einer Phase der neoliberalen Agonie, die gewalttätiger und destruktiver ist als frühere Phasen. Die europäischen Regierungen führen einen Angriff auf das Bildungssystem durch, besonders im Bereich von Wissenschaft und Forschung. Es ist ein Teil eines Krieges gegen die kognitive Arbeit; einem Krieg, der ihre Unterwerfung zum Ziel hat. Das europäische Universitätssystem basiert größtenteils auf prekärer, unterbezahlter oder unbezahlter Arbeit. WissenschafterInnen und Studierende haben mit ihren Protesten auf diese Entwicklung hingewiesen und fordern die Rückkehr zur ursprünglichen Idee des Bildungssystems als Ort des undogmatischen Wissens und als öffentlich zugänglicher Teil der Gesellschaftskultur. Forschung darf den restriktiven Kriterien von Funktionalität nicht mehr untergeordnet werden; ihre grundlegende Funktion ist die Entwicklung von Lösungen, die sich zwar in gegenwärtigen Paradigmen als dysfunktional erweisen mögen, dadurch aber den Zugang zu neuen paradigmatischen Landschaften überhaupt erst ermöglichen. Angesichts eines kapitalistischen Paradigmas, welches uns heute vor scheinbar unlösbare Problemen stellt, kommt dieser Rolle von wissenschaftlicher Forschung eine besondere Bedeutung zu.


Die regierende Klasse Europas zielt darauf ab, Forschung auf eine bloße Methode für die Governance eines komplexen Systems zu reduzieren. Die Ideologie von Governance beruht auf der Integration (oder Hypostasis, wie ich es in einem Hegel’schen Sinne formulieren würde) ökonomischer Denkmuster. Die Ökonomie hat den Status einer universellen Sprache erreicht und wurde zum ultimativen Standard erhoben, obwohl sie eigentlich nur ein Wissenszweig unter vielen sein sollte. Aus epistemologischer Sicht ist diese normative Rolle, die der Ökonomie zugeschrieben wird, nicht gerechtfertigt. Auf der sozialen Ebene hat diese Entwicklung verheerende Auswirkungen. Wenn Forschung einer ökonomischen Konzeptualisierung unterworfen ist, dann kann man nicht länger von Forschung sprechen, denn es handelt sich vielmehr um technisches Management. Bei der sogenannten Reform des europäischen Bildungssystems ab 1999 (dem Jahr der Bologna-Charta) geht es um die Abtrennung der angewandten Forschung von den grundlegenden Fragen des empirischen Wissens und seiner Bestimmung. Die Forschung wird einem Evaluierungsprozess unterworfen, der sich ausschließlich an ökonomischen Kriterien orientiert. Die epistemischen Auswirkungen dieser Politik sind weitreichend: Wenn man die Forschung den Gesetzen des ökonomischen Wachstums unterwirft, beraubt man das Wissen seines elementaren Zwecks. Der amerikanische Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn beschreibt diesen Zweck als die „paradigmatische“ Funktion von Wissen. Die Grundvoraussetzung für einen Paradigmenwechsel ist die Autonomie einer Forschung, die nicht an etablierte Evaluierungsstandards gebunden ist. Die Unabhängigkeit der Forschung von etablierten sozialen Interessen ermöglicht uns, die ewige Wiederholung zu überwinden und neue Perspektiven zwischen Vorstellung und Technologie zu entwickeln.

 

Der Schlüsselbegriff für diesen Prozess ist Governance. Governance produziert reine Funktionalität ohne Sinn und betreibt die Automatisierung des Denkens und des Willens. Sie rekombiniert miteinander kompatible (kompatibilisierte) Fragmente des Wissens. Governance ist der Austausch von politischem Willen durch ein System automatisierter Formalitäten, welches die Realität in einen logischen Rahmen presst, der nicht hinterfragt werden kann. Finanzielle Stabilität, Wettbewerbsfähigkeit, die Reduktion von Lohnnebenkosten, die Steigerung der Produktivität – die systemische Architektur der EU basiert auf derartigen dogmatischen Grundlagen. Diese sind in die technische Funktionalität betriebswirtschaftlicher Subsysteme eingebettet und können daher weder herausgefordert noch diskutiert werden. Eine Artikulation oder Aktion ist also nur dann operativ, wenn sie den im alltäglichen Austausch integrierten Regeln des techno-linguistischen „dispositifs“ folgt.

 

Governance ist das Management eines Systems, dass zu komplex ist, um regiert zu werden. Der Begriff des „Regierens“ impliziert das Verständnis einer sozialen Welt (als Reduktion auf ein rationelles Modell) sowie die Fähigkeit des menschlichen Willens (despotisch, demokratisch usw.) den Informationsfluss, und damit einen relevanten Teil der Gesellschaft, zu kontrollieren. Die Möglichkeit des Regierens setzt einen niedrigen Grad an Komplexität im Bereich der sozialen Information voraus. Die Komplexität von Information hat in der späten Moderne aber zugenommen und ist im Zeitalter der digitalen Netzwerke regelrecht explodiert. Daher ist die Übersetzung der Vielfalt an sozialen Informationen in eine umfassende Kenntnis der Gesellschaft ebenso unmöglich geworden wie auch deren politische Kontrolle.  Letztere wird zunehmend aleatorisch und unsicher, fast unmöglich, und eine steigende Anzahl an Vorkommnissen entkommt dem organisierten Willen.

 

An diesem Punkt wechselt der Kapitalismus in den Modus der Governance. Dabei wird die bewusste Verarbeitung des Informationsflusses von einer Verkettung technologischer Funktionen abgelöst, eine dialogische Auseinandersetzung wird durch die Verbindung einzelner Segmente ohne Bedeutung ersetzt. Statt über die Mittel von Dialog und Konflikt einen Konsens zu etablieren, der auf einer gemeinsamen Bedeutungsebene beruht, werden im Rahmen von Governance automatisierte Adaptierungen auf Grundlage einer rein technischen Sprache vorgenommen. An die Stelle eines fundierten Planungsprozesses tritt die Verwaltung von Störungen. Statt zwischen in Konflikt stehenden politischen Interessen und Projekten zu vermitteln, werden die TeilnehmerInnen dieses Gesellschaftsspiels anhand ihrer Kompatibilität bewertet. Die Rhetorik der historischen Dialektik wird von einer Rhetorik der systemischen Komplexität abgelöst.

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Auf der Suche nach Autonomie

Da das Modell der Governance als ein in sich geschlossener Kreislauf perfekt funktioniert, zerstört es zwangsläufig den gesellschaftlichen Körper. Norbert Wiener stellte im Rahmen seiner Kybernetikforschung fest, dass ein System, das auf Abweichungen von der Norm mit positivem Feedback reagiert, diese verstärkt. Im Fall von negativem Feedback verhält es sich genau umgekehrt – der Effekt der Abweichung wird reduziert. Bei der Verbindung von digitaler Technologie mit der Finanzwirtschaft etabliert sich eine Logik des positiven Feedbacks, das technologische wie auch psychologische Automatismen auslöst und damit destruktive Tendenzen entwickelt. Man braucht sich nur den Diskurs der politischen Klasse in Europa ansehen: Wenn Deregulierung den systemischen Kollaps der globalen Wirtschaft verursacht hat, dann benötigen wir mehr Deregulierung! Wenn niedrigere Steuern auf hohe Einkommen zu einem Einbruch der Nachfrage geführt haben, dann lasst uns die Steuern auf hohe Einkommen senken! Wenn die extreme Ausbeutung zur Überproduktion von unverkäuflichen und zwecklosen Autos geführt hat, dann lasst uns die Autoproduktion intensivieren!

 

Sind diese Leute verrückt? Ich glaube nicht. Ich denke jedoch, dass sie nicht in der Lage sind, in die Zukunft zu denken; sie sind panisch, schockiert von ihrer eigenen Impotenz; sie haben Angst. Die moderne Bourgeoisie war eine Klasse, deren Existenz immer eng an ein Territorium, dessen Sachwerte und der darauf lebenden Gemeinschaft gebunden war. Im Gegensatz dazu hat die derzeit dominante Finanzklasse weder einen Bezug zu einem Territorium noch zu einer Warenproduktion, denn ihre Macht und ihr Reichtum basieren auf der perfekten Abstraktion eines digital multiplizierten Finanzwesens.

 

Die digital-finanzielle Hyper-Abstraktion eliminiert den lebendigen Körper von unserem Planeten und mit ihm den gesellschaftlichen Körper. Einzig die gesellschaftliche Kraft des „general intellect“ ist imstande, die Maschine neu zu starten und einen Paradigmenwechsel einzuleiten. Dies setzt allerdings die Autonomie des „general intellect“ und die soziale Solidarität unter den KognitarierInnen voraus. Daher brauchen wir einen Prozess autonomer Subjektivierung der kollektiven Intelligenz.

 

Franco „Bifo“ Berardi ist Autor, Medientheoretiker, Medienaktivist und Lehrbeauftragter für Mediensozialgeschichte an der Accademia di Brera in Mailand.

 

[i] Dieser Beitrag ist im e-flux journal #20 (November 2010) erschienen [http://www.e-flux.com/journal/20/67633/cognitarian-subjectivation/]. Aus dem Englischen übersetzt von Chris Hessle.

[ii] Der Begriff „general intellect” geht ursprünglich auf Karl Marx zurück, der im deutschsprachigen Originalmanuskript den englischsprachigen Ausdruck verwendet und ihn mittels Fußnote als „allgemeiner Verstand” (bzw. im Genetiv: „allgemeinen Verstandes”) übersetzt (Marx-Engels-Werke Bd. 42, S. 602), während Robert Foltin und Martin Birkner in ihrem Buch „(Post-)Operaismus“ den Begriff „Massenintellekt” bevorzugen. Dank an Robert Foltin für den Hinweis. (Anm. des Übersetzers).

[iii] Zum (Post-)Operaismus siehe u.a. das einführende Werk von Martin Birkner/Robert Foltin: (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Wien: Schmetterling Verlag, 2010.

[iv] Siehe Christian Marazzi: „The Privatization of the General Intellect”, übersetzt von Nicolas Guilhot, 2008. [http://firgoa.usc.es/drupal/node/38954].

[v] Jaron Lanier. You Are Not A Gadget. New York: Random House, 2010, S. 97.