kinoki-Mehrfachbelichtungen. Dziga Vertov und der Versuch eines revolutionären Kinos.

Gekippte Aufnahmen eines kinoki-Aktivisten mit Kamera wechseln in rascher Folge mit dem Zwischentitel: „Wir blenden die Sterne mit unseren Projektoren!“ Als wir in der ersten Hälfte der 90er Jahre eine Filmgruppe mit Homebase im Wiener Ernst-Kirchweger-Haus nach Vertovs Begriff für Film-AktivistInnen kinoki benannten, hatten wir lediglich den „Mann mit der Kamera“ gesehen.

Erste Sequenz: Gekippte Aufnahmen eines kinoki-Aktivisten mit Kamera wechseln in rascher Folge mit dem Zwischentitel: „Wir blenden die Sterne mit unseren Projektoren!“ Als wir in der ersten Hälfte der 90er Jahre eine Filmgruppe mit Homebase im Wiener Ernst-Kirchweger-Haus nach Vertovs Begriff für Film-AktivistInnen kinoki benannten, hatten wir lediglich den „Mann mit der Kamera“ gesehen. Die großspurige Aneignung Vertovs stützte sich vor allem auf seine Texte, die Manifeste der kinoki, deren Enthusiasmus versprach, man könne mit dem Kino revolutionär arbeiten, nicht nur bourgeois. Revolutionär ist z.B. die Sichtbarmachung des strukturell Unsichtbaren. Also im Zeitalter der proletarischen Revolutionen: das Ins-Bild-Treten der Arbeit und der Arbeitenden (die im ersten Moment der Kinogeschichte die Fabrik verließen und sie dann bis zu Vertov und Eisenstein kaum einmal wieder betraten…). „Die Seele der Maschine enthüllen, den Arbeiter in die Werkbank verlieben, den Bauern in den Traktor, den Maschinisten in die Lokomotive!“ schrieb Vertov. Als wir später sahen, wie Vertov das „Wiegenlied“ („Kolybelnaja“, 1937), das er als „Lied auf die freie Frau“ konzipiert hatte, zur stalinistischen Hymne geraten ließ, waren wir irritiert. Den Vereinsnamen ändern? „Gruppe Medvedkin“!? Hatten wir wirklich Vertov, Svilova und Kaufman beerbt, als wir Wunschmaschinen in Gestalt mobiler Projektionsapparate aus den Schutthalden des Realen Sozialismus geborgen hatten? Das Pathos der Arbeit ist ebenso diskreditiert wie der Begriff des Volkes. Vor allem aber hat sich die Ansicht der historischen kinoki, es gäbe ein mechanisch perfektionierbares Überauge, dem sich ein objektiv revolutionärer Blick auf die Welt erschließt, mit der Hoffnung, Revolution sei „Sowjets & Elektrifizierung & organisatorische Effizienz der Deutschen Post“ gemeinsam aus dem Glaubensbekenntnis der WeltrevolutionärInnen verabschiedet.

Zweite Sequenz: Die Frauen vor der Kamera des Mannes mit der Kamera. Eine Frau wacht auf. Arbeiterinnen. Frauen beim Baden.

Schönheit ungeschönter Menschen. Jedes Grinsen, jeder Oberarm, jeder Blick in die Kamera ein Aufstand gegen die Körper- und Charakterstereotypen der Star- Aristokratie der kapitalistischen Kulturindustrien. Welch ein Genuss, mit dem Blick auf irgendwelchen Menschen verweilen zu dürfen, ihnen beim Leben zuzusehen, ohne sie für eine Geschichte, einen Sinn, eine Bedeutung zu benützen. Hatten wir doch kurz vorher Lina Wertmüllers „Camorra“ gesehen und die Kamera verflucht, die kaum einmal oberflächlich über die eigentlichen Heldinnen des Films, die verschwörerischen, alten Frauen schwenkt und stattdessen immer nur auf Angela Molinas Prettyface haftet. Fluch dem Fokus auf ’s kodiert Schöne, auf ’s dramaturgisch Stringente. Dagegen scheint die kinoki-Kamera Raum, Zeit und Geschichte unbeschränkt vor dem Blick auszurollen, scheint Gesellschaftspanorama zu bieten. Anschein, der beim genauen Hinsehen sich natürlich weniger als weitäugig gesehene Wirklichkeit, sondern als gedankenweite Konstruktion einer solchen präsentiert. „Jeder Versuch, laufende, essende und arbeitende Menschen zu filmen, endet unweigerlich mit einem Misserfolg. Die Mädchen beginnen ihre Frisuren zu ordnen, die Männer machen Fairbanks- oder Conrad-Veit-Gesichter“, schreibt Vertov. Die dokumentarfilmische Illusion einer wirklichen Wirklichkeit ist also eine umso trickreichere Überlistung dieser Wirklichkeit, die sich angesichts einer Kamera immer hinter einem koketten Lächeln versteckt. Es reicht also nicht, die Kamera in Slums, Flüchtlingsquartiere, Bananenplantagen oder Warenterminbörsen zu halten. Es wäre zu fragen: Wer hält die Kamera, wer macht den Schnitt? Wer spricht? Wer wird wovon gesprochen? Welchem Publikum soll was gesagt werden?

Dritte Sequenz: Die Montage mehrerer Bilder im „Elften Jahr“ („Odinnatzaty“, 1928). Auf der großen sozialistischen Baustelle, die ein Sechstel der Erde ausmachte, schlagen Arbeiter auf die Spitze steinerner Berge ein. Fontänen aus Steinen und Sand fliegen über ein freigeschaufeltes Grab, in dem schon seit 2000 Jahren ein Skythe liegt. Neben Splitter, Speer und Steinspitzen lauscht ein Skythe durch schwarze Löcher seines Schädels dem lärmenden Anbruch einer neuen Zeit. Kameramann Kaufman richtet das Objektiv verwirrt auf die berstende Stille.

Jahre später lernte kinok Tom Waibel bei kinoki-Arbeiten in mittelamerikanischen Regenwäldern Menschen kennen, die die Skelette ihrer Jahrtausende alten Ruinen nur unter der Bedingung zeigten, dass kein verwirrtes Objektiv die Stille zerberste. Weil sich „Lächeln, Tränen, Tode und Steuern nicht dem Schalltrichter des Filmregisseurs unterordnen“ (Vertov), war ein großer Teil der Video-Arbeit von Tom Waibel mit Indigenas in Chiapas und Guatemala vor allem eine Arbeit an der Positionierung der Kamera im sozialen Raum. In den basisdemokratischen indigenen Kulturen nicht als ethnographischer Aufzeichner, sondern als Techniker im Dienste des indigenen Blickes aufzutreten, erfordert erst einmal Geduld. Die erstaunlichen Ergebnisse stießen zwar in Mittelamerika auf großes Interesse, doch in Europa gab es kaum sehende Augen dafür, da in den eigenen Produktionen der Indigenas sie selber an keinem der Plätze erschienen, die ihnen im europäischen Phantasma einzig bereitgehalten werden: exotische Andre, deren hübsche Kultur wir vor der Auslöschung bewahren sollen, zum Beispiel. Oder edle Wilde, deren militante Resistance auch uns vom Kapitalismus erlöse. „Die Mängel, Ungerechtigkeiten, und Hindernisse bei der Arbeit nicht verstecken, sich nicht davor fürchten, sie zu zeigen, über sie zu sprechen“, fordert Vertov. Die Fabrikation der dokumentarischen Fiktionen selbst zu zeigen – nicht nur als technischen Prozess, sondern auch als sozialen und politischen –, gilt für www.kinoki.at jedenfalls als Programm. „Die Mystifikation im Leben und auf der Leinwand zu entschlüsseln, zu beidem sind die kinoki gleichermaßen verpflichtet.”

Literatur
Sämtliche Vertov–Zitate stammen aus:
Dziga Vertov: „Tagebücher / Arbeitshefte” Hrsg. Von Thomas Tode und Alexandra Gramatke

Und aus dem Reclamheft: „Texte zur Theorie des Films”

kinoki sind Peter Grabher, Tina Leisch, Tom Waibel u.v.a.m.

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