Die Fabrik des verschuldeten Menschen
Maurizio Lazzarato: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben. Aus dem Französischen übersetzt von Stephan Geene. Berlin: b_books 2012
Das Gewicht der Schulden ist enorm. Nicht nur für die einzelnen Verschuldeten, sondern überhaupt. Sie sind zum „Archetyp der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (44) geworden, behauptet jetzt der postoperaistische Theoretiker Maurizio Lazzarato. Das zu konstatieren bedeutet, die Ursprünge und Grundlagen von Ökonomie und Sozialem nicht im Tauschhandel auszumachen, sondern in einer Machtasymmetrie. Ähnlich hatte auch der Anarchist David Graeber in seinem viel beachteten Buch Schulden. Die ersten 5000 Jahre argumentiert. Darüber hinaus heißt es aber auch, Schulden und Schuld zu verkoppeln. Über die moralische Dimension der Schulden werden diese zu einem Moment der Herrschaft, zur „Kontrolle der Subjektivität“ (Lazzarato). Während der Anthropologe Graeber dem Verhältnis von Schulden und Schuld in der Geschichte und auf anderen Kontinenten nachspürt, legt Lazzarato es auf eine Zeitdiagnose an. Und die ist düster – und erhellend zugleich.
Lazzarato, im deutschen Sprachraum vor allem über seine Auseinandersetzungen mit der „immateriellen Arbeit“ bekannt, hat in seinem hervorragenden Essay über „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ all die Leichtigkeit und anscheinend auch den Optimismus verloren, der postoperaistische Texte sonst häufig auszeichnet. Die Kämpfe, denen sonst immer das Primat eingeräumt wird, scheinen hier bereits verloren.
Mit Nietzsche und Marx analysiert Lazzarato, wie die „Schuldenökonomie“ mit dem anhaltenden Siegeszug des Neoliberalismus alles überrollt. Alles, selbst die Zeit. Denn Schulden und Kredit funktionieren nur, wenn ein gemeinsamer Glaube an die Zeit erzwungen wird. Zukunft und der Imperativ, zurückzuzahlen, werden dabei gleichbedeutend. Und insofern es sich um einen „Glauben“ handelt, ist er den Subjekten nicht äußerlich, sondern quält sie von innen, quasi als in Leib und Seele übergegangene Schuld. Um einen „gemeinsamen“ Glauben handelt es sich nur formal, denn er dient allein dem Gläubiger.
Der Bedeutungszuwachs der Schulden stellt nicht nur eine von Diskontinuitäten geprägte, „pointilistische Zeit“ her, wie es der Konsum laut Zygmunt Bauman tut. Die „Schulden neutralisieren die Zeit“ (56), so Lazzarato, indem sie aus ihr jede Möglichkeit der freien Entfaltung, des Ungewissen und damit auch der emanzipatorischen Veränderung tilgen. Der Kredit erfüllt die Entfremdung, denn er beutet nicht nur, die produktive, sondern die „ethische Arbeit der Konstitution des Selbst und der Gemeinschaft“ (61) aus.
Lazzaratos Text ist stark, wo er die gegenwärtige Krise in ihren ökonomischen und moralischen Dimensionen analysiert und wo er nebenbei Gilles Deleuze und Félix Guattari als Kapitalismuskritiker wiederentdeckt. Schwach ist bloß das Ende. Da spricht er von der „maschinischen Indienstnahme“, die mehr Beachtung finden sollte. Diese Sätze stehen dem Adorno’schen Kulturindustriepessimismus in nichts nach: Wo dem einen Freiheit bloß noch die „Freiheit von Achselschweiß und Emotionen“ ist, sind bei Lazzarato die Individuen zu „Dividuen“ geworden, die nur noch auf die Imperative der (Geld-)Automaten reagieren. Erstens ist es in der Regel nie ganz so schlimm – wie und von wem wären allein solche Analysen sonst denkbar? Zweitens wird das auch der Polyvalenz des Maschinischen bei Deleuze sicher nicht gerecht.
Als Gegenmittel empfiehlt Lazzarato, den Kampf gegen die Schuldenökonomie vor allem „gegen ihre ‚Moral’ des Schuld-Habens“ (136) zu richten. Das klingt einerseits gut, weil Lazzarato zeigen kann, wie sehr das Kapital auf diese moralische Dimension angewiesen ist. Andererseits ist es zu einfach: Die Schuld von Folterknechten, Hacienda-Besitzern oder Eigentümern „arisierter“ Häuser aufzuzeigen, kann durchaus Teil emanzipatorischer Strategien gegen die Kontinuen kolonialistischer bzw. nationalsozialistischer Gewalt sein. Einen eindeutig gekennzeichneten Fluchtweg hat die Fabrik des verschuldeten Menschen also nicht.