Abstraktionen des Gedenkens

Als "absolut" wurde "Auschwitz" gedeutet, weil das, was mit diesem Namen genannt wird, "beispiellos" (Arendt) ist, und zwar nicht vorrangig in dem Sinne, dass man es schlechthin nicht mit anderem vergleichen könnte, sondern in dem Sinne, dass es kein Modell gibt, für das "Auschwitz" Beispiel sein könnte: dass es umgekehrt seinerseits als - negatives - Modell (Adorno) verstanden werden muss.

1. "Alte, ihre Eier sind faul, sagt die Einkäuferin zur Hökersfrau. Was, entgegnet diese, meine Eier faul? Sie mag mir faul sein! Sie soll mir das von meinen Eiern sagen? Sie? Haben ihren Vater nicht die Läuse an der Landstraße aufgefressen, ist nicht ihre Mutter mit den Franzosen fortgelaufen (…) - flick sie sich nur die Löcher in ihren Strümpfen!"

Die Worte stammen von Hegel. Sie sind einem kurzen Text aus dem Jahr 1807 mit dem Titel "Wer denkt abstrakt?" entnommen: einer Satire, in der Hegel die geläufigen Urteile darüber, was abstrakt ist, ad absurdum führt. Wirklich abstrakt nämlich, so Hegel, denke nicht der gebildete Mensch, sondern der ungebildete; wirklich abstrakt sei nicht das philosophische Denken, sondern der Furor der Hökersfrau; wirklich abstrakt sei es etwa, dass preußischen Militäroffizieren gemeine Soldaten als "prügelbare Subjekte" gelten, oder aber, in einem Mörder "nichts als dies Abstrakte, dass er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm zu vertilgen". Abstraktion in diesem Sinne bedeutet also, etwas oder jemanden auf eine (für wesentlich ausgegebene) Qualität festzuschreiben, indem alle übrigen Qualitäten, alle übrigen relevanten Zusammenhänge ausgeblendet werden. Die Hökersfrau beispielsweise bietet einen ganzen Sermon auf, der allein dazu dient, die Einkäuferin zu diskreditieren - und so davon abzulenken, dass ihre Eier möglicherweise tatsächlich faul sind.

2. Dass weder Philosophentum noch Bildung vor solch schlechter Abstraktion schützt, hat Rudolf Burger mit seinem vor einigen Monaten in der Europäischen Rundschau und auszugsweise im Standard publizierten Text "Irrtümer der Gedenkpolitik" einmal mehr unter Beweis gestellt. Ganz im Stile des "coolen Wendephilosophen" versucht Burger darin die faulen Eier der schwarz-blauen Regierungskoalition einmal mehr auf dem Feuilletonmarkt zu verhökern; dieses Mal aber entlädt sich sein Furor über die "Irrtümer" eines angeblich psychoanalytisch fundierten Gedenkdiskurses, dessen Kernannahme in einer Theorie der "Verdrängung" der Nazizeit bestehe und dessen relevante Produkte Burger für eine "Ekel erregende" kulturindustrielle "Ausbeutung der Opfer" hält. Burgers Text versteht sich als "Plädoyer für das Vergessen" (so der Untertitel): Letzteres sei "nicht nur ein Gebot der Klugheit, sondern auch ein Akt der Redlichkeit; und es wäre eine Geste der Pietät" - denn "real" sei "die Nazizeit so versunken wie Karthago, das mumifizierende Gedenken verzaubert sie zum Mythos".

3. Eines von vielen Beispielen: In seiner Ausgabe vom 19. Juli 2001 berichtet Der Standard von der Enthüllung einer Gedenktafel in Salzburg, deren Aufschrift einen Satz Theodor Herzls wiedergibt: "In Salzburg brachte ich einige der glücklichsten Stunden meines Lebens zu." Herzl hatte dies über seine Zeit als Gerichtspraktikant im Jahr 1885 notiert. Den unmittelbar folgenden Satz in den Aufzeichnungen Herzls gibt die Salzburger Gedenktafel nicht wieder: "Ich wäre auch gerne in dieser schönen Stadt geblieben; aber als Jude wäre ich nie zur Stellung eines Richters befördert worden." Ein Gebot der Klugheit? Ein Akt der Redlichkeit? Eine Geste der Pietät? - Die "Mythen", die das mumifizierende Gedenken hervorbringt, sind zweifellos heterogen; auch dort, wo sie nicht das "geile Thema" (Burger) Nazizeit unmittelbar berühren, sondern "nur" die Kontinuitäten des Antisemitismus. Sollten diese gleich mitvergessen werden? Wie aber sollte andererseits eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, dessen Fortbestehen und dessen Wiederaufleben denkbar sein, ohne der Verfolgungen und des industriellen Massenmordes der "Nazizeit" zu gedenken?

4. Burgers Forderung nach einer "Amnestie", an sich schon krude genug (wer genau soll hier wen amnestieren?), läuft also auf eine zumindest punktuelle Amnesie hinaus. Das liegt nicht allein daran, dass Burgers Argumentation jenem vulgärfreudianischen Verdrängungsbegriff, den sie als künstlichen Gegner aufbaut, selbst verhaftet bleibt und soziale Gemengelagen differierender, konkurrierender oder sich verflechtender Gedenkpraxen ebenso ausblendet, wie sie etwa sozialwissenschaftliche Deutungsmodelle kollektiver Gedächtniskonstruktionen zwar per name-dropping in die Beschreibung antiker (!) Mythenbildungen einbringt, nicht aber am gesetzten Thema diskutiert. Bezeichnenderweise mündet das Verfahren in eine Auseinandersetzung mit C. G. Jungs Vorstellung einer "Kollektivseele", deren Ablehnung Burger zum Anlass nimmt, seinen eigenen Antifaschismus spazieren zu führen. - Erkenntniswert hat das alles wenig, nicht einmal die Kritik daran.

5. Entscheidender ist, dass Burger mit der "Amnestie" einen juridischen Begriff einführt, ohne auch nur im Entferntesten das Verhältnis zwischen juridisch-politischen Setzungen und Gedenkpraxen in modernen Gesellschaften zu problematisieren. Anlässe dafür gäbe es genug: von der Frage der Definition der Nachfolgestaaten des "Dritten Reichs" über die Festlegung der Bedingungen für eine Anspruchsberechtigung auf Entschädigungszahlungen (das österreichische Nationalfondsgesetz macht etwa das Bestehen der österreichischen Bundesbürgerschaft und eines österreichischen Wohnsitzes zum 13. März 1938 zur Bedingung und legt als Tag, ab dem eine Ausreise aufgrund der Bedrohung durch Nazi-Deutschland anerkannt wird, den 12. Juli 1936, den Tag des "Juli-Abkommens" fest; wer davor das Land verlassen hat, hat keinen Entschädigungsanspruch) bis hin etwa zu den politischen und rechtlichen Implikationen der Frage nach einer Kriegsbeteiligung Deutschlands. In allen genannten Fällen verflechten sich historische Urteile und politisch-rechtliche Maßnahmen. Eben deswegen aber können entsprechende Entscheidungsfindungen nie rein historisch oder rein juridisch getroffen werden, sondern müssen Gegenstand öffentlich-politischer Auseinandersetzungen mit beidem sein.

6. Das Prekäre daran, "Auschwitz" zu erinnern - die Leiden und die Vernichtung der Opfer, den industriellen Massenmord der Nationalsozialisten und die Verbrechen ihrer Kollaborateure -, liegt nicht so sehr (nach dem klassisch-platonischen Modell der Anamnesis) im Problem der Übereinstimmung eines möglichen Erinnerungsaktes mit dem zu Erinnernden begründet, sondern in einer Nichtübereinstimmung, die schon angesichts der Ermordeten jede Erinnerung versagen lässt. Wenn etwa Adorno schreibt: "(…) seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod", so heißt das auch, dass jedes Gedenken an die Toten einer Zerstörung unangemessen bleibt, die weiter reicht als der Tod im Sinne eines Endes der Existenz, weil sie diese Existenz selbst ebenso beschädigt hat wie ihre mögliche Bewahrung in einem Gedächtnis. Burgers sophistische "Beweisführung", von einer Traumatisierung könne "man allenfalls bei den Überlebenden des Terrors reden", erinnert angesichts dessen an den zynischen Revisionismus Robert Faurissons, der Anfang der achtziger Jahre die Existenz von Gaskammern mit dem Argument bestritt, er habe keinen einzigen Zeugen gefunden, der "tatsächlich und mit eigenen Augen eine Gaskammer gesehen" hätte.

7. Dass "Auschwitz" als Absolutum der Geschichte verstanden wurde, ist daher weder, wie Burger behauptet, als Sakralisierung zu sehen, noch wird dadurch schlichtweg jede Relationalität abgestritten; es bedeutet vielmehr, dass die vertrauten Relationszusammenhänge und -maßstäbe nicht hinreichen, um "Auschwitz" zu denken. Dies legen teilweise sehr früh entstandene Texte ganz unterschiedlicher AutorInnen nahe: etwa Adornos Formulierung jenes neuen kategorischen Imperativs, das "Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe"; ebenso Hannah Arendts Reflexionen über den Mangel an Zweckrationalität, vor allem aber über die Überforderung der kodifizierten Ethik, insbesondere des Tötungsverbots, durch den verwaltungsmäßigen Massenmord; oder schließlich Hermann Brochs Rede von der "im Konzentrationslager so grässlich paradigmatisch verkörperten Voll-Versklavung" als "Irdisch-Absolutes" im Sinne einer "absoluten Grenze der menschlichen Moral".

Als "absolut" wurde "Auschwitz" gedeutet, weil das, was mit diesem Namen genannt wird, "beispiellos" (Arendt) ist, und zwar nicht vorrangig in dem Sinne, dass man es schlechthin nicht mit anderem vergleichen könnte, sondern in dem Sinne, dass es kein Modell gibt, für das "Auschwitz" Beispiel sein könnte: dass es umgekehrt seinerseits als - negatives - Modell (Adorno) verstanden werden muss. Im Unterschied zum Sakralen ist das, was mit "Auschwitz" bezeichnet wird, höchst empirisch, ja gewissermaßen absolut empirisch: Es setzt nicht einmal die Intelligibilität einer Bedeutung frei, die diesem Empirischen entsprechen könnte, indem es dessen gültige Darstellung übernimmt. Die Verpflichtung zu erinnern wäre damit von vornherein paradoxal. Sie bedeutet, an "Auschwitz" anknüpfen zu müssen oder zu sollen und zugleich nicht daran anknüpfen zu dürfen oder zu können.

8. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben, dessen Hauptwerk "Homo Sacer" das Konzentrations- und Vernichtungslager als Paradigma der modernen Biopolitik beschreibt, hat in einem kürzlich in Jungle World erschienenen Interview auf die strukturellen Homologien zwischen den nationalsozialistischen Lagern und den im heutigen Europa existierenden Abschiebelagern hingewiesen: die Internierung und den exekutiven Zugriff auf Personen, denen jegliche Subjektposition im bürgerlichen Recht entzogen ist und die auf ihr nacktes Leben reduziert werden, die Gleichzeitigkeit von rigider Inklusion und rigider Exklusion (jene 438 mehrheitlich afghanischen Flüchtlinge, die im vergangenen Sommer mehr als eine Woche lang auf einem norwegischen Frachter vor der Küste Australiens festsaßen, haben dies deutlich sichtbar werden lassen).

Agamben betont selbstverständlich, dass im Falle der Abschiebelager die souveräne Macht nicht auf Vernichtung abzielt, sondern auf die Kontrolle über Bewegungen - und damit auf eine Kontrolle über die Bevölkerung, die keine völkische Ideologie benötigt, um "Orte des Ausnahmezustands" zu schaffen. Aber es geht hier auch gar nicht um einen Vergleich, sondern um ein Beispiel, und zugleich um die Frage, für welches Modell, welches Paradigma, welche Bedingungen es Beispiel ist. Damit eben könnte sich eine gedenkpolitische Auseinandersetzung beschäftigen, würde sie sich nicht, wie im Falle der "Burger-Debatte", in nationalen Identitätseinflüsterungen samt deren Inszenierung im Feuilleton erschöpfen. Vergessen wir nicht, dass der Name "Auschwitz" nicht nur die grausame Zuspitzung der nationalsozialistischen Ideologie bezeichnet, sondern auch ein nahezu europaweit funktionierendes System der Erfassung, Kontrolle und Deportation der Bevölkerung. Und vergessen wir nicht, dass die spezifisch nationalstaatliche Idee der "Bevölkerung" nicht nur mit der Etablierung allgemeiner staatsbürgerlicher Rechte einhergeht, sondern eben auch mit der Intensivierung sozialer Kontrolltechniken - und zugleich mit der umfassenden strukturellen Implementierung der Unterscheidung zwischen dem Status als StaatsbürgerIn und der nackten physischen Existenz. Eine Opposition dazu wird auch in diesem Sinne "ohne Land" sein müssen.

Stefan Nowotny ist Philosoph, lebt in Brüssel und Wien und arbeitet derzeit als Fellow am Centre de Philosophie du Droit, Universität Louvain-la-Neuve, Belgien.