Hollywood im AKH
Die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kunst kann faszinierende Ergebnisse bringen. Ein Beispiel, wie Kunst unkonventionelle Ausbildungsmethoden in der Psychiatrie entwickelte, die mittlerweile hochgefragt sind.
Alles begann vor etwa fünfzehn Jahren mit einem im deutsch-sprachigen Raum einzigartigen Pilotprojekt an der Psychiatrischen Klinik im AKH Wien. Zwei Fachärzte (Prof. Gerhard Lenz und Prof. Martin Lischka) trainierten dort über einige Jahre intensiv drei Schauspieler/innen zu Doppelgänger/innen von „echten“ psychisch Kranken. Depression, Alkoholismus, Schizophrenie, Wahnvorstellungen, Angstneurosen – insgesamt zehn Krankheitsbilder wurden erarbeitet. Und zwar so perfekt, dass selbst Fachleute die Simulation nicht durchschauen. Studierende der Medizin, der Heilpädagogik und der Psychologie erproben nun an diesen „Klonen“ das psychiatrische Erstinterview, ohne dass dabei echte Patient/innen (die zuvor als Lehrmittel fungierten) durch eventuelle Fehler und Ungeschicklichkeit geschädigt werden können.
„In der Psychiatrie ist die Erst-Exploration als Mittel der Untersuchung auch bereits die Einleitung der Therapie. Man versteht darunter ein strukturiertes Gespräch bzw. Interview, das eine aktive Vorgehensweise des Untersuchers erfordert und zum Ziel hat, psychopathologische Symptome wie Stimmung, Denkinhalte, kognitive Funktionen im Einzelnen, aber auch in ihrer Gesamtheit zu erfassen.“ (Gerhard Lenz, Anleitung zur psychiatrischen Exploration, 2009) Diesen „Explorationen“ eignet höchste Konzentration und – naturgemäß – Dramatik seitens der Patient/innen. Gewöhnlich wird vorerst die aktuelle Problematik abgefragt, hernach die Dauer und Heftigkeit dieser Gesundheitsstörung, das soziale Umfeld, der Arbeitsplatz sowie Episoden aus Kindheit und Jugend.
Den „psychiatrischen Kern“ bilden nun mittlerweile vier Personen – drei Schauspielerinnen und ein Schauspieler (Eva Linder, Gabriela Hütter, Katrin Kröncke und Hagnot Elischka). Sie sind nicht das, was sie simulieren, sie werden als Scheinwesen für erste Erkundungsversuche zur Verfügung gestellt. Die Konfrontation muss aber „wirklich“ sein, das erkrankte Vorbild in uns muss von uns beschützt werden und jederzeit zu seinem Recht kommen. Die Rede der Patient/innendoppelgänger/innen ist extrem abhängig von Befragungsstrategie, Stimmung, Körpersprache und Ausstrahlung der Fragenden, auf die die Befragten aber wiederum absichtslos rückwirken. – Ein kybernetisches System. Das Wesentliche ist, dass wir Doppelgänger/innen nach der jeweiligen Befragung ein Feedback geben können: Wie die Patientin/der Patient sich bei der Befragung gefühlt hat, was ihr/ ihm Angst gemacht hat, was sie/ihn beruhigte. Das vermögen nämlich die echten Patient/innen nicht.
Inwiefern trägt unsere leistungsorientierte Gesellschaft an Zusammenbrücken und Krankheiten ihrer Mitglieder Schuld und wie sehr ist sie bereit, diese Abweichungen von der Norm dann zu akzeptieren?
„Es war ein Wagnis“, sagt Prof. Gerhard Lenz. Der Facharzt für Psychiatrie meint damit nicht nur die weitgehend unbekannte Ausbildungsmethode, die er in den 90er Jahren zum ersten Mal nach Österreich brachte. „Die Doppelgängerrolle würde die Schauspieler in den Wahnsinn treiben“, warnten seine Fachkolleg/innen. Und überhaupt: „Das sei ja Hollywood am AKH!“ – Doch Lenz beharrte auf der unkonventionellen Ausbildungsmethode, die er bei einem Kongress in Schottland kennen gelernt hatte. Er definiert Gesundheit, die seiner Ansicht nach kein Mensch vollständig besitzen kann, folgendermaßen: „Einerseits Leistungsfähigkeit, also Arbeitsfähigkeit, andererseits Beziehungsfähigkeit, Liebesfähigkeit und körperliche Funktionsfähigkeit.“ Die Frage, die sich hier aufwirft, lautet: Inwiefern trägt unsere leistungsorientierte Gesellschaft an Zusammenbrüchen und Krankheiten ihrer Mitglieder Schuld und wie sehr ist sie bereit, diese Abweichungen von der Norm dann zu akzeptieren? Viele dieser Störungen hätten nämlich immer mehr mit unserer Arbeitsmarktsituation zu tun und der „Entmündigung des Bürgers“ – was immer quälender wird. (Stefan Schlögl, Die Zeit, 21/2010)
PSYCHIATRIE ! Eine Theaterperformance © Judith Leikauf
Beim „So-tun-als-ob“, was der Normalfall des Schauspielens ist, werden im Gehirn Netzwerke von Nervenzellen aktiviert, die mit Aufmerksamkeit, Beobachtung, Reizunterdrückung und Fehlerkontrolle zu tun haben. Wenn Simulationstechnik angewandt wird scheint auch die Amygdala stark beteiligt zu sein, da z. B. hohe Dosen an Stresshormonen messbar sind. Da man dafür seinem Nervenzellen-Netzwerk Wirklichkeit vorgaukeln muss, ist es notwendig, zuvor in Situationsanalysen verwandtes Eigenes zu finden. Würden wir das vorhandene Material nicht simulieren, sondern „als Rolle spielen“, könnte die eigentliche Krankheit kaum diagnostizierbar sein, da sich dann das „So- tun-als-ob“ wie ein befremdlicher Filter zwischen Doppelgänger/innen und Befrager/innen schiebt.
Wir müssen die Spannung zwischen Situation und Denken durchhalten und dürfen bei Fragen (die manchmal für unser Vorbild sehr beängstigend sein würden) das Ehrgefühl der Erkrankten nicht vergessen. Dieses Ziel, keinesfalls „theater-spielen“ zu dürfen, brachte fruchtbare Konsequenzen bis tief in unsere „normale“ Theaterarbeit hinein. Auch deshalb sind wir in die künstlerische Reflexion gegangen.
TRAUMA ! Eine Theaterperformance © Judith Leikauf
Die Kunstprojekte
Die Erfahrungen durch dieses aufregende Pilotprojekt, aber auch die Binnen-Diskussionen der „standardisierten Patient/innen”, das große Interesse, das die nach außen gedrungenen und dort weitergesponnenen Diskussionsfäden immer wieder auslösten, sowie Feedback von Universität und eigenem KünstlerInnen- Umfeld, hatten in uns den Gedanken zu einem Kunstprojekt reifen lassen:
— PSYCHIATRIE ! (2010, R: Jan-Christoph Gockel)
Neben Live-Explorationen wird (laienverständlich) über Vorgänge im Gehirn gesprochen, Patient/innenschicksale, psychische Erkrankungen im Allgemeinen, Erlebnisse der Schauspieler/ innen UND gegebenenfalls der Zuschauer/innen (!).
Wurde zum NESTROY-Spezialpreis nominiert und als „Sonderprojekt“ zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen, wo wir wegen des großen Andrangs noch zwei Zusatzvorstellungen einschieben mussten.
Im Verlauf der Recherchearbeiten zu „PSYCHIATRIE !“ hatten sich bereits Ideen zu Folgeproduktionen entwickelt:
— TRAUMA ! (2011, R: Jan Jedenak & Emsemble)
Über den Themenkomplex der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
Eine Untersuchung, wie sich Grauen überfallsartig in Psyche und Verhalten manifestiert – mit Blick auf psycho-physische Phänomene der PTBS, d. h. auf Flashbacks und Fehldeutung in Kommunikation und Erinnerung; Hirnforschung. Der Einbruch des Theatralen ins normale Leben.
— vernichten... (2015, R: Judith Humer)
Ein Versuch, sich den inneren Abläufen bei Täter/innen von Massakern in Familie, Schule und Straße zu nähern. Was geschieht IN ihnen in der Zeit VOR der Tat? Das Unbewusste, der Wunsch und der Traum – und welche Gewalt können sie annehmen? Frühe Kindheit. Kränkung, Beleidigt sein, verdeckte Rachegefühle, schwere Niedergeschlagenheit, schwelender Hass. Realitätsverkennung und Mangel an Kommunikationsfähigkeit. Dazu eine Anhäufung von Pech. – Letztlich die endgültige Transformation in Feindseligkeit / Radikalisierung / Gewalt. Was verändert sich während der finalen Rückzugsphase im Gehirn der Person? Im Gemüt? War die Katastrophe nicht vorhersehbar? Was ist das für eine Daseinsweise, die sich über Jahre auf derart theatrale Formen der Selbstvernichtung vorbereitet? Haben wir nicht schon einmal selbst ähnlich Drastisches IN UNS erlebt, konnten jedoch noch rechtzeitig aus dieser MA- SCHINERIE entkommen? Das „das ist mir ähnlich“ wird hier für die Betrachter/innen wesentlich. Denn wer auch immer die Gelegenheit hat, der medizinischen Exploration psychisch Kranker beizuwohnen, erlebt in manchen biographischen Details bzw. Sensationen dieser Kranken verwirrende Parallelen zu eigenen Erlebnissen mit sich selbst.
Diese Produktionen werden weiterhin verlangt und gestürmt. Mittlerweile werden wir auch von anderen Universitäten als „Klone“ angefordert – von Fachhochschulen, Spitälern, diversen Institutionen, NGOs, sowie als Fachberater/in in relevanten Ministerien.
Welch faszinierende Ergebnisse bei Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kunst entstehen können, wird hier augenscheinlich.
Katrin Kröncke ist Schauspielerin und Dramaturgin. Sie studierte Theaterwissenschaft und Linguistik. Seit 2011 ist sie „Künstliche psychiatrische Patientin“. Hagnot Elischka ist Schauspieler, Dramaturg und Regisseur. „Künstlicher psychiatrischer Patient“ seit 1995. Beide arbeiten in der Kompetenzgruppe Entstigmatisierung im Gesundheitsressort (BMASGK) mit.
Coverfoto: Produktion "TRAUMA" © Judith Leikauf
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.19 „Kultur als Rezept“ des Magazins der IG Kultur Österreich - Zentralorgan für Kulturpolitik und Propaganda erschienen.
Das Magazin kann unter office@igkultur.at (5 €) bestellt werden.