Turbulente Ränder revisited

Das öffentliche, symbolische und juridische Ordnungsraster von Migration wird hierzulande bis heute dominiert durch eine raumgebundene und -bindende Konzeption von Migration, d.h. Migration wird als unidirektionaler Ortswechsel, als raum-zeitlich begrenzter Prozess der Aus- und Einwanderung gedacht, vielfach konzeptualisiert in Anlehnung an naturalistische Vorstellungen von Entwurzelung und Wiedereinpflanzung.

Mit dem Projekt TRANSIT MIGRATION[1] haben wir in zweijähriger Feldforschungsarbeit eine kaum erforschte Migrationslandschaft untersucht: die südöstliche Peripherie, den anderen „Rand“ Europas. MigrantInnen haben dort in den letzten zwei Jahrzehnten neue Migrationsrouten etabliert und dadurch ehemalige Anwerbeländer der Gastarbeitsmigration wie die Türkei, Griechenland und das ehemalige Jugoslawien ins Visier supranationaler Apparate der Migrationskontrolle gerückt. Unsere Forschungen auf EU-Ebene und zur regionalen Praxis haben eine „Kunst, Migration zu regieren“ aufgefunden, einen neuen gouvernementalen Politikstil der Steuerung und Aktivierung. Diese neue Kunst, Migration zu regieren, zeichnet sich unter anderem durch die gestiegene Bedeutung aus, die den medialen Diskursen und der visuellen Kultur als gewichtiges Kampfterrain zukommt. Südosteuropa ist nicht nur Konfliktzone, sondern auch migrationspolitisches Laboratorium.

Der „methodologische Nationalismus“ in Theorie und Praxis

Theoretischer und forschungspolitischer Ausgangspunkt unseres Untersuchungsprojektes ist das „Elend der Migrationstheorie“ in Deutschland. Gemeint sind die zwei Hauptachsen der epistemologisch-politischen Matrix der wissenschaftlichen und politischen Wissensproduktion über Migration: die Territorialisierungsnorm und der daran gleichsam unzertrennlich gebundene Integrationsimperativ. Das öffentliche, symbolische und juridische Ordnungsraster von Migration wird hierzulande bis heute dominiert durch eine raumgebundene und -bindende Konzeption von Migration, d.h. Migration wird als unidirektionaler Ortswechsel, als raum-zeitlich begrenzter Prozess der Aus- und Einwanderung gedacht, vielfach konzeptualisiert in Anlehnung an naturalistische Vorstellungen von Entwurzelung und Wiedereinpflanzung. Dem liegt die Vorstellung eines nationalstaatlichen Containermodells von Gesellschaft zu Grunde, welche die soziologische und kulturwissenschaftliche Wissenspraxis der Moderne durchgehend kennzeichnet (Pries 1997: 29ff.; Römhild 2003: 65). Der methodologische Nationalismus entnennt die gewaltvollen Territorialisierungsprozesse, mit denen versucht wird, Raum, Gesellschaft und Kultur symbolisch und juridisch zur Deckung zu bringen und resultiert schließlich in einer Integrationsforderung an jede/n einzelne/n MigrantIn. Selbst das Exklusionsparadigma, das in direkter Abgrenzung zu Konzepten der Integration entwickelt wurde, bewegt sich noch innerhalb dieser epistemologischen Matrix. In den Blick genommen werden hier ökonomische, politische und soziale „Schließungen“, die als Verteidigung von Vorrechten durch privilegierte Gruppen – die „Mehrheitsgesellschaft“ – im Rahmen ungleicher Machtverhältnisse konzipiert werden. Obgleich die MigrantInnen auf diese Weise nicht als TrägerInnen eines „Integrationsdefizits“ angerufen werden, folgt auch das Exklusionskonzept der klassischen „Ausländerforschung“, insofern die „methodologisch nationalistische“ Normativität der Integrationsperspektive unumstritten bleibt.

Transnationalismus

Das Transnationalisierungsparadigma, welches im US-amerikanischen Kontext seit gut fünfzehn Jahren in der Migrationsforschung diskutiert wird, verstehen wir als erkenntnistheoretische und methodische Hilfskonstruktion, mit der sowohl Entwicklungen auf politischer und konzeptueller Ebene als auch Strategien von MigrantInnen in den Blick genommen werden können, die vom Mainstream der sozial- und kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung in Deutschland konzeptionell nicht erfasst werden konnten und sollten. Die Transnationalisierung von Lebensführungen ist eine Reaktion auf die globale Restrukturierung der Ökonomien. Diese Ressourcenoptimierung bewegt sich zugleich an den Rändern und entlang migrationspolitischer Restriktionen. Studien zur transnationalen Migration zeigen, wie mehrortige Migrationsstrategien im konzeptionellen Sinne neuartige soziale Formationen konstituieren. Sie bilden, so geografisch verstreut sie auch immer sein mögen, in zunehmendem Maße die Referenzstruktur der alltäglichen Lebensführung: von ökonomischen und politischen Aktivitäten bis hin zu biografischen Lebensentwürfen. Sie transzendieren das national-staatliche Container-Modell von Gesellschaftlichkeit und lenken den Blick auf post- und transnationale Lebensverhältnisse, Arbeits- und Reproduktionsweisen. Der soziale Raum der Migration wird mit dem Integrationsdispositiv gleichsam gekerbt, um einen Begriff von Gilles Deleuze und Félix Guattari (1997) zu verwenden. Die Kerbung ist ein Vorgang, bei dem der gelebte Raum reterritorialisiert, d.h. zählbar, regierbar und planbar gemacht wird. Dagegen beinhaltet der transnationale Raum Momente der Deterritorialisierung, in denen die MigrantInnen jenen oben beschriebenen Engpässen gleichsam „fliehen“. Diese Flucht und die institutionalisierten Versuche, die Flucht zu „binden“, sie zu regulieren und in Bahnen zu lenken, konstituieren den Raum der Migration. Deterritorialisierung hängt auf diese Weise intrinsisch mit Reterritorialisierung zusammen.

Europäisierung from below

Genau dieses Verhältnis zwischen durch Migrationen strukturierten transnationalen Räumen und ihrer staatlichen Reterritorialisierung konstituiert das Terrain der Europäisierung der Migrationspolitik. Mit dieser hat sich eine transnationale Dimension von Migrationspolitik entwickelt, die in einem Wechselwirkungsverhältnis zur migrantischen Transnationalisierung „von unten“ steht. Europäisierung verstehen wir daher nicht als eine simple Verschiebung staatlicher Souveränität auf eine höhere, suprastaatliche Ebene, sondern als Antwort und Reaktion auf die turbulenten Dynamiken der Migration in Europa. Gerade im Kontext der Migrationsforschung wird oftmals noch die Vergemeinschaftung bzw. die Europäisierung der Migrationspolitik gleichsam für bare Münze genommen. Die Metapher von der „Festung Europa“ und die Etablierung immer neuer Instrumente der Migrationskontrolle auf europäischer Ebene nähren entweder die Vorstellung, es gebe ein einheitliche Politik der EU in diesem Zusammenhang, oder es werden bestimmte Einzelstaaten als „Hegemone“ identifiziert, die ihre Migrationspolitik hegemonialisieren. Auch hier ist es notwendig, die transnationale Perspektive auch auf die institutionellen politischen Akteure und ihre Praktiken anzuwenden. Wir behaupten nichts weniger, als dass etwa die Erweiterung und Diffusion der Außengrenzen der EU durch den Erweiterungsprozess und die zahlreichen Kooperationen mit den Anrainerstaaten nicht verstanden werden können, wenn man sie ausschließlich als souveräne Ausweitung von staatlichen Kontrollansprüchen versteht. Vielmehr ist dieser imperiale Charakter der Europäischen Union Ausdruck auch der Migrationen, die Europa zwingen, seine institutionelle Apparatur bis in die Sahel-Zone auszudehnen. Das bedeutet nicht, dass die Migration den Platz des Souveräns annimmt. So wie die Anwerbeabkommen in der fordistischen Gastarbeiter-Ära auch Versuche waren, die Migration in Bahnen zu lenken, so sind die vielfältigen Abkommen zwischen der EU und ihrer Peripherie Ausdruck dieser „Wieder-Vereinnahmung“ oder Reterritorialisierung der Migration. Das Projekt der Europäisierung, entstanden unter anderem aus der Krise des sozialen Nationalstaats als dessen neoliberale Rekodierung, nimmt die Dynamik der Migrationsströme auf und benutzt sie, um sie in eine Dynamik des Europäisierungsprozesses umzumünzen.

Ethnografische Regimeanalyse

Eine der Arbeitshypothesen im Forschungsprojekt TRANSIT MIGRATION war, dass die Vorstellung einer „Festung Europa“ weniger als Deskription des Grenzgeschehens an den Peripherien Europas, sondern vielmehr als Ausdruck der Schwierigkeit zu verstehen ist, die Turbulenzen der Migration adäquat zu fassen und ein repräsentationales Gefüge zu denken, in dem Migrationen Gesellschaften verändern und nicht gleichsam an ihnen abprallen. Wir vertreten auch nicht die These, dass hier eine Lücke zwischen Realität und Anspruch, also ein reines Implementierungsproblem vorliegt, bei dem die Vorgaben „von oben“ eben lokal nur bedingt umgesetzt werden. Vielmehr verstehen wir Grenzen selbst als Aushandlungsräume, in denen die Widersprüche und Paradoxien dieser Institution ausgetragen werden. Aus diesem Grund haben wir im Verlauf des Forschungs- und Diskussionsprozesses ein interdisziplinäres Verfahren entwickelt: die ethnografische Regimeanalyse. Dabei haben wir uns auf den Begriff des Regimes bezogen, um die verschiedenen und durchaus heterogenen theoretischen Zugänge miteinander zu verknüpfen und für die Untersuchung des Verhältnisses von Migration und ihrer gesellschaftlichen und staatlichen Bearbeitung fruchtbar machen zu können. Der Regimebegriff ermöglicht, sowohl ökonomistische als auch funktionalistische Theoreme in der Migrationstheorie zu vermeiden und das Verhältnis zwischen den Handlungen der MigrantInnen und den Agenturen der Kontrolle nicht als binäres Subjekt-Objekt Verhältnis zu denken. Unter Regime verstehen wir also ein Ensemble von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen – Diskurse, Subjekte, staatliche Praktiken –, deren Anordnung nicht von vorneherein gegeben ist, sondern das genau darin besteht, Antworten auf die durch die dynamischen Elemente und Prozesse aufgeworfenen Fragen und Probleme zu generieren. Die Produktivität eines Grenzregimes etwa besteht in der Regulation der grenzüberschreitenden Arbeitsmobilität, in der Verwaltung und Bearbeitung des „Überschusses“. Auf methodischer Ebene ging es also darum, die disziplinären Sackgassen von so genannten Makro- und Mikroanalysen, die jeweils der Soziologie und der Kulturanthropologie zugeschrieben werden, wenn nicht völlig zu vermeiden, so doch reflektiert zu wenden. Während die globale (Politik)Analyse von Regierungs- oder Steuerungssystemen tendenziell deren Omnipotenz betont und (soziale) Subjekte nur als Spielfiguren in einer vorgegebenen Matrix denkbar erscheinen, haben sich die Kulturwissenschaften zum theoretischen Pflichtverteidiger von Subjektivität und Subversion entwickelt. Dieser Parodie einer mehr oder weniger friedlichen Koexistenz und der ihr scheinbar entsprechenden epistemologischen Arbeitsteilung haben wir mit TRANSIT MIGRATION einen dritten Raum entgegen gestellt, in dem die subjektive Seite des Migrationsgeschehens nicht auf individuelle Tricks der MigrantInnen reduziert ist, und umgekehrt die Handlungsmuster in der Migration nicht einfach institutionell vorgegeben sind. Es geht darum, ethnografisch und empirisch das „subjektive Gesicht“ der Migration und des staatlichen Handelns gleichermaßen in ihrer konstitutiven und produktiven Dimension zu fassen. Strukturen, Apparate und Institutionen sind aus einer praxiologischen Perspektive nur unterschiedliche Aggregatzustände von Handeln und deshalb einander nicht entgegengesetzt. Bestimmte Handlungen sind dabei in der Lage, andere zu vereinnahmen und rekuperieren und sich dabei institutionell zu verdichten oder zu einem Aggregratwechsel beizutragen.

Die MigrantInnen machen, mit jenem berühmten Satz von Marx (1852) aus dem „18ten Brumaire des Louis Bonaparte“, ihre Migration selbst, aber sie machen sie nicht frei von Bedingungen, sondern „unter vorgefundenen Umständen“. Was macht man aber mit „Umständen“? Man kann sich darin einrichten, arrangieren und die Umstände reproduzieren; oder die Praktiken des Umgehens akkumulieren sich – „unter Umständen“ – bis zur Krise. Aber schon das einfache Reproduzieren kann nicht bruchlos gelingen. Weil die MigrantInnen nicht angetreten sind, Strukturen zu reproduzieren, sondern ihr Leben zu verbessern, weil sie Teil verschiedener „Umstände“ sind und weil jedes Migrationsprojekt anders aussieht. Die Umstände der Migration verändern sich also durch die Projekte, mit denen die MigrantInnen, als gesellschaftliche Subjekte, diese Umstände stets aufs Neue reproduzieren und in diesem Prozess verändern. Es gibt keine Migration ohne Strategien und Projekte der Migration. Hierin liegt die Notwendigkeit, das zu konzeptualisieren, was wir Autonomie der Migration nennen.

1 Im Projekt TRANSIT MIGRATION arbeiteten von 2002 bis 2006 ForscherInnen, FilmemacherInnen, MedienaktivistInnen und KünstlerInnen zur Entstehung eines neuen Europäischen Grenzregimes und zu Bewegungen transnationaler Migration über die Grenzen der EU hinweg und befragten die Darstellbarkeit bzw. Darstellung dieser Realität im Wissenschaftsdiskurs, in den Medien und in der Kunst. Transit Migration

Literatur

Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (1997): Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin.
Marx, Karl (1852): „Das 18. Brumaire des Louis Bonaparte“. In: MEW 8, Berlin, S. 111-207.
Pries, Ludger (1997): „Neue Migration im transnationalen Raum“. In: Ludger Pries (Hg.): Transnationale Migration, Soziale Welt, Sonderband 12, Baden-Baden, S. 5-44.
Römhild, Regina (2003): „Jenseits der deutschen Integrationslogik. Kulturanthropologische Perspektiven für die Einwanderungsgesellschaft“. In: Christoph Köck, Alois Moosmüller und Klaus Roth (Hg.): Zuwanderung und Integration. Kulturwissenschaftliche Zugänge und soziale Praxis. Münster, S. 163-176.

Sabine Hess ist Hochschulassistentin am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der LMU München.

Serhat Karakayali ist Lehrbeauftragter an der FU Berlin und Projektleiter von amira – Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus (www.amira-berlin.de).

Vassilis Tsianos lehrt und forscht an der Soziologischen Fakultät Hamburg.